Eine Zeitreise

European Song Contest

von Heinz Mauch-Züger
min
01.04.2025
Was am 24. Mai 1956 unter der Bezeichnung «Grand Prix Eurovision de la Chanson» begann, hat sich im Lauf der bisher 68 Austragungen zum grössten Musikspektakel der Welt entwickelt. Seit 2001 bekannt unter der Bezeichnung «European Song Contest» (ESC).

Wer hat’s erfunden?

Im Jahr 1956 nahmen gerade mal sieben Länder am Musikwettbewerb teil. Durchgeführt wurde dieser Anlass vom Schweizer Fernsehen im Rahmen der Eurovision in Lugano. Die damalige Vertreterin für die Schweiz hiess Lys Assia. Berühmt geworden war sie mit dem Lied «Oh mein Papa» aus Paul Burkardts Operette «Der schwarze Hecht». In Lugano gewonnen hat sie jedoch mit dem Lied «Refrain». Der Anlass in Lugano hat seine Wurzeln im ebenfalls noch heute ausgetragenen Sanremo-Festival, das bereits 1951 erstmals durchgeführt wurde und in Italien auch heute noch eine wichtige Bedeutung hat.

Nicht nur die Durchführung des ersten Wettbewerbs hat ihre Wurzeln in der Schweiz, nein, auch die Idee, einen solchen Anlass via Fernsehen zu verbreiten, stammt aus unserem Land. Marcel Besançon, Generaldirektor der Schweizerischen Rundfunkgesellschaft (SRG) und Vorsitzender der Programmkommission der Europäischen Rundfunkunion (EBU) initiierte den Anlass und übernahm die erste Austragung. Das Format stiess auf Zuspruch und die Entwicklung begann. Zu Ehren des Erfinders wird seit 2002 von den akkreditierten Journalisten, den Kommentatoren und den Komponisten der Marcel-Besançon-Preis für das beste Lied, die beste künstlerische Darbietung und die beste Komposition verliehen.

Veränderungen in der Austragung

Mit der zunehmenden Verbreitung von Fernsehgeräten entwickelte sich der Anlass zu einem vom Publikum und den Medien vielbeachteten Format. Das Interesse weiterer Länder wurde nach und nach geweckt. Waren es anfänglich mit den Niederlanden, Belgien, Deutschland, Frankreich, Luxemburg und Italien in erster Linie westeuropäische Länder, kam 1961 Jugoslawien als Mitglied der EBU hinzu (bis 1991). Die neunziger Jahre brachten mit der EBU-Erweiterung eine Ausweitung nach Osten. Im Jahr 1993 gab es dort eine separate Vorentscheidung, wo sieben Länder um drei Startplätze konkurrierten. Man wollte damals das bestehende Format nicht über Gebühr ausweiten und beschränkte die Teilnehmendenzahl ab 1994 auf 25 und 1995 dann auf 23 Länder. Die besten 19 Länder qualifizierten sich, die übrigen mussten ein Jahr aussetzen.

1996 wurde dann aufgrund des nach wie vor steigenden Interesses ein neues Verfahren eingeführt, was zu grundsätzlichen Diskussionen führte. Ausser dem jeweiligen Austragungsland mussten sich alle Länder einer Vorauswahl durch eine Jury stellen. Der deutsche Beitrag schied bei dieser Vorwahl aus und die Deutschen drohten, keinen Beitrag mehr zur Finanzierung des Anlasses zu leisten. Aufgrund dieses Druckes wurde beschlossen, dass die 5 Länder, welche den grössten Teil am EBU-Budget tragen, ab 1999 ohne Vorausscheidung teilnehmen können. Mit diesem Beschluss waren Deutschland, Frankreich, Grossbritannien und Spanien und seit 2011 auch Italien automatisch teilnahmeberechtigt. Nicht alle Länder teilten diesen Entscheid, so beispielsweise die Türkei, die seit 2013 nicht mehr am Wettbewerb teilnimmt.

Seit 2008 werden, aufgrund des grossen Teilnehmendenfeldes, Vorausscheidungen in Form von zwei Halbfinals jeweils am Dienstag und Donnerstag vor dem Final am Samstag ausgetragen. Bereits diese Voranlässe bringen tausende an den Ort des Geschehens und vor die Bildschirme.

Über die Jahre gab es immer wieder Auseinandersetzungen über die Teilnahme, je nach politischen Haltungen in bestimmten Ländern. So blieb beispielsweise 1969 Österreich der Austragung in Madrid fern, aufgrund der Haltung zum Franco-Regime. Tunesien und der Libanon bleiben dem Anlass wegen der Teilnahme von Israel fern. 2017 hatte Russland bereits eine Teilnehmerin für Kiew bestimmt, doch verweigerte ihr die Ukraine die Einreise.

Stars und Sternchen

Für viele Musiker:innen ist der ESC im Lauf der Zeit eine wichtige Plattform für ihre Bekanntheit geworden. Je nach Generation kennt man die Interpret:in noch oder ist sogar durch die Sendung zum Fan geworden.

Zur Erinnerung eine kleine Auswahl:
Gigliola Cinquetti, 1964; France Gall, 1965; Udo Jürgens, 1966; Sandie Shaw, 1967; Vicky Leandros, 1972; ABBA, 1974; Brotherhood of Man, 1976; Johnny Logan, 1980; Nicole, 1982; Céline Dion, 1988; Toto Cutugno, 1990; Secret Garden, 1995; Olson Brothers, 2000; Lena, 2010; Conchita Wurst, 2014; Måneskin, 2021 ...um nur einige zu nennen.

Von Lys Assia zu Nemo: Nach 69 Jahren ist die ESC-Austragung wieder in der Schweiz. | Quelle: cbs17.com

Ein Spiegel der Zeit

Nicht nur politische Interessen beeinflussten und beeinflussen die Entwicklung des Grossanlasses. Soziale Gruppenzugehörigkeiten spielten seit den neunziger Jahren zunehmend eine grosse Rolle in der Entwicklung des Wettbewerbes. Die Queer- und LGBTQ+-Bewegungen brachten sich zunehmend in das Geschehen ein und fanden im ESC eine internationale Plattform für ihre Werte. Als 1998 mit «Dana International» eine Transgender-Künstlerin aus Israel den Wettbewerb gewann, wurde das Format zu einem wichtigen Transportmittel für die Anliegen und Rechte dieser Bewegungen. Durch sie gewann der Anlass an Dynamik und transportierte die Werte von «Diversity» in die Gesellschaft. Anerkennung, Respekt vor Andersartigkeit und Offenheit für andere Lebensweisen wurden neben den Wettbewerbsregeln zu wichtigen Stützen der Philosophie des ESC. Mit Gewinner:innen wie Conchita Wurst, 2014, und Nemo, 2024, zeigt sich diese Offenheit als gelebte Praxis.

Neben weltanschaulichen Einflüssen zeigt sich die Entwicklung des ESC jedoch auch in der technologischen Entwicklung von Sound und Darbietung. Eine Flut von fixen und bewegten Bildern, Animationen, Licht und Sound schafft eine dichte Atmosphäre von Eindrücken und bettet die Vortragenden ein in ein massgeschneidertes Setting. Verglichen damit wirken die Anlässe aus den sechziger und siebziger Jahren langatmig und behäbig.

Basel 2025: Interessiert Sie nicht?

Am 13., 15. und 17. Mai rauscht der ESC in Basel mit 38 teilnehmenden Ländern über die Bühne. Gegen 180 Millionen Zuschauer weltweit – seit Australien ab 2015 dabei ist, wörtlich zu nehmen – und tausende in Basel selbst, werden sich das Spektakel nicht entgehen lassen. Sie halten nichts vom ESC? Macht nichts. Hineinschauen empfehle ich trotzdem. Wenn Sie diese Sendung seit zwanzig Jahren nicht mehr gesehen haben, werden Sie überrascht sein, was da alles passiert ist. Sie erhalten einen Einblick in ein Stück Gegenwart, das die Vielgestaltigkeit und Widersprüchlichkeit unserer Zeit und in unserem Land spiegelt. Nemo sei Dank.

 

Queer und LGBTQ+:

Die Bezeichnungen sind nicht per se identisch, umfassen jedoch Minderheiten, welche sich geschlechtlich, sozial und weltanschaulich von herkömmlichen heterogeprägten Rollen- und Normverständnissen distanzieren. Während LGBTQ+ eher sexuelle Merkmale (lesbisch, schwul, bisexuell, transgender und queer, das + steht für weitere Identitäten) transportiert, kann der Begriff Queer etwas offener auch für andersartige weltanschauliche und politische Orientierungen jenseits herkömmlicher patriarchal geprägter Ansätze benutzt werden.

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