Freiwillige schaffen Comeback der Kirchgemeinde

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25.05.2022
Die Kirche verliert Mitglieder, die fusionierten Gemeinden werden immer grösser, Pfarrpersonen sind Mangelware. Wie bleibt die Kirche nahe bei den Menschen, ohne sich zu verzetteln? Im Ausland gehen Kirchen neue Wege – mit Erfolg.

Vor einigen Jahren übernahm ich in einer Bündner Kirchgemeinde eine Stellvertretung für einen Pfarrkollegen. Die Gemeinde besteht aus mehreren Dörfern. Auf dem «Berg» hat es insgesamt vier Kirchen. Der Pfarrer leitete damals abwechslungsweise zwei Gottesdienste im hinteren Berg und im vorderen Berg. So kam einmal im Monat jedes Dorf in den Genuss einer Feier. Als Gast hatte ich mich zu fügen. Aber als man mich fragte, was ich von diesem Arrangement halte, hielt ich mit meiner Meinung nicht hinter dem Berg. «Wäre es nicht viel gescheiter», fragte ich, «wenn man das gottesdienstliche Leben auf die Gemeinde mit der grössten Kirche, der schönsten Orgel und der funktionierenden Heizung beschränkte?» Man könnte doch die wenigen Leute, die sich jeden Monat zu einer Minigemeinde scharen, mit einem Bus einsammeln.

 

Eine Kirchgängerin klärte mich auf: «Man geht doch nicht vom vorderen auf den hinteren Berg in die Kirche!»

 

Man hörte mir höflich zu. Aber ich sah in den Gesichtern, dass sie den Unterländer für etwas beschränkt hielten. Eine treue Kirchgängerin klärte mich auf: «Man geht doch nicht vom vorderen auf den hinteren Berg in die Kirche!»

Bergler und Städter ticken gleich

Ich wunderte mich und dachte, ich hätte es mit einem Bergphänomen zu tun. Doch das stimmt nicht. Ein holländischer Freund erzählte mir eine ähnliche Geschichte vom Friesland. Und dort ist es topfeben. Man sagt, es habe mit einem ländlichen Befinden zu tun und sei eine Alterserscheinung. So alt bin ich nicht und ich wohne in einer kleinen Grossstadt. Aber beim Gedanken, ich müsste sonntags im Nachbarquartier Gottesdienst feiern, stellt sich auch bei mir eine gewisse Unlust ein.

Tatsächlich ist es erwiesen, dass Verbundenheits- und Zugehörigkeitsgefühl wichtige Faktoren des Gemeindelebens sind. Man merkt es dort, wo Gemeinden fusioniert haben und danach keine gemeinsame Kultur entstanden ist. Dass die Leute vom hinteren Berg keine Anstalten machen, auf den vorderen Berg zu kommen, ist nachvollziehbar. Gemeindechristen sind Gewohnheitstiere.

 

Die Kirche ist ihnen lieb und teuer. Sie ist das Kleinod in der strukturschwachen Landgemeinde.

 

Lässt man also besser alles beim alten? Das wäre keine nachhaltige Strategie. Denn dann überliesse man die Gemeinde den Alten. Und die werden naturgemäss immer weniger. Man könnte die Gemeinden vergrössern, die Pfarrer mehr rotieren lassen und das Angebot ausdünnen. Doch die Betreuung weit verstreuter Kleingemeinden durch eine Pfarrperson ist für diese auf Dauer aufreibend. Kurz: Wenn die Einnahmen weiter sinken und das Personal knapp ist, muss man über Alternativen nachdenken.

Es braucht einen «Sauerteig»

Ein attraktives Gemeindemodell lernte ich an einer Tagung in Norddeutschland kennen. Die ältere Dame, die es vorstellte, fing mit einem bemerkenswerten Bekenntnis an: «Wir sind hundert Leute und sind durchschnittlich siebzig Jahre alt.» Das hört sich zunächst nicht nach einer Erfolgsmeldung an. Tatsächlich aber treffen sich diese hundert Leute regelmässig zum Gottesdienst, besuchen sich gegenseitig und pflegen ein reges Gemeindeleben. Was ist ihr Geheimnis?

Die Kirche ist ihnen lieb und teuer. Sie ist das Kleinod in der strukturschwachen und überalterten Landgemeinde, die sonst nicht mehr viel an gemeinschaftlichem Leben zu bieten hat. In einigen einsameren Gegenden Nord- und Ostdeutschlands, in ländlichen Gebieten im Süden Hollands oder in den schottischen Highlands sehen wir da und dort ein Comeback der Gemeinde. Das kommt allerdings nie von allein. Es braucht in der Regel einen «Sauerteig» aus Menschen, der eine grössere Menge durchsäuert. Oder mit einem anderen biblischen Gleichnis ausgedrückt: Das Comeback wird ermöglicht aus dem sozialen Startkapital, das eine Gruppe von Menschen einsetzt. Sie vergraben ihre Talente nicht. Sie verschwenden sie grosszügig.

Hundert Gemeindeglieder, die sich hundertprozentig für ihre Gemeinde einsetzen – das hört sich nach einem Wunder an. Doch auf dieses Wunder sollten wir setzen: auf das Potenzial der Glaubensgemeinschaft, die klein anfängt, aber wachsen kann. Wir hätten oft mehr als hundert Leute, die etwas beisteuern würden – böte man ihnen denn die Gelegenheit dazu. Dass die Leute angefragt werden, dass sie die Gelegenheit erhalten, ihre Talente einzubringen, braucht Initiative. Und beherzte Initiantinnen. 

Ein Schlüsselproblem ist also das Personal. Denn wir fragen reflexartig: Wo ist die Pfarrerin? Was macht sie, um die Gemeinde wieder in Schwung zu bringen? So fragen wir zuerst, weil wir volkskirchlich so getrimmt sind. Es könnte sich lohnen, diese Fixierung auf die pastorale Versorgung aufzugeben und alternative Modelle der gemeindlichen Selbstsorge zu prüfen.

Anglikanische Kirche als Vorbild

Das biblische Stichwort dazu liefert Paulus. Der Apostel rät den Gemeinden im Galaterbrief: «Ein jeder trage die Last des Anderen.» Die gegenseitige Fürsorge schafft eine Kultur der Verbindung. Es gibt ein Konzept der anglikanischen Kirche, das auf die Dynamik dieser Kultur aufbaut und «Local shared Ministry» genannt wird. Der Grundpfeiler des am Ort geteilten Pfarramts ist das Engagement von Laien, die sich für ihren Dienst ausbilden und zurüsten lassen. Die Pfarrpersonen und andere Dienste kommen als «Enabler» – als «Ermöglicher» – ins Spiel. Laien, die pfarramtliche Aufgaben übernehmen, bekommen ihr Rüstzeug von Theologinnen. Diese haben ihrerseits gelernt, Menschen zu befähigen – sei es in der Diakonie, in der Seelsorge, im Gottesdienst oder in der Freizeitarbeit mit Kindern oder Senioren.

 

Einen Gottesdienst zu feiern, in dem einer liest und eine andere betet, ist weiss Gott keine Hexerei.

 

«Local shared Ministry» hat sich sowohl in Grossstädten als auch in ländlichen Randregionen bewährt. In Gemeinden, denen das Geld und das Personal fehlt, um das traditionelle Modell der professionellen Rundumversorgung zu finanzieren. Es gäbe in England und Neuseeland ganze Landstriche, die sich in kirchliche Wüsten verwandelt hätten, wären nicht die Laien eingesprungen. In anglikanischen Kirchen und in einigen deutschen Landeskirchen ist man dazu übergegangen, Prädikanten oder sogenannte Laienpriester zu ordinieren. Wäre ein solches Modell auch bei uns denkbar?

Ja, aber es würde bedeuten, einige Selbstverständlichkeiten zu hinterfragen, die sich nicht nur auf dem hinteren und vorderen Berg eingenistet haben. Und es wäre mit Widerstand zu rechnen. Wie wird das Verhältnis der klassischen Gemeinden und der selbstversorgten Gemeinschaft geregelt? Das muss sorgfältig diskutiert werden. Insofern kann man auch dieses Modell nicht telquel übernehmen. Es muss übersetzt werden in unsere Verhältnisse. Aber das gilt für alle Modelle.

Vielleicht hilft uns die pure Not: In den nächsten Jahren ist mit einem eklatanten Pfarrermangel zu rechnen. Es können gar nicht alle Stellen besetzt werden. Also müssen auch die Laien einen Anteil der Gemeindearbeit übernehmen. Wäre das so tragisch?

Pensionierte als «Enabler»

Ich kenne einige pensionierte Pfarrerinnen, die sich hervorragend als «Enabler» eignen würden. Es kann nicht jeder predigen. Aber einen Gottesdienst zu feiern, in dem einer liest und eine andere betet, ist weiss Gott keine Hexerei. Natürlich kann eine zu kleine Gottesdienstgemeinde auf die Dauer etwas Beklemmendes entwickeln. Darum häufig – zum Beispiel immer am ersten Sonntag im Monat – ein einziger grosser und fröhlicher Gottesdienst für die Region. Um eine solche Gemeindeerfahrung auf dem vorderen Berg möglich zu machen, muss man die Leute hinter dem Berg aus ihrer Zerstreuung einsammeln. Ein gut organisierter Fahrdienst ist ebenso wichtig wie die Liederauswahl. Vor allem aber muss man beharrlich sein. Auf neuen Wegen zu gehen, ist sowohl im Hügelland als auch in der Stadt Glaubenssache. Am Ende packen es die Christen hinter dem Berg dann doch schneller als die im Jammertal. Schliesslich versetzt der Glaube Berge.

Text: Ralph Kunz | Foto: Hanspeter Frischknecht, Gossau – Kirchenbote SG, Juni-Juli 2022

 

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