Leben in einer anderen Welt

Freude am Augenblick

von Judith Husistein
min
01.10.2024
Wir wollen Maria besuchen. Auf unser Klingeln öffnet eine Pflegefachfrau, lässt uns eintreten und schliesst die Türe hinter uns ab. Wir stehen in einer grossen Wohnung mit vielen Zimmern, Küche, Esszimmer und Stube. Der Fernseher läuft und irgendwo hört man volkstümliche Musik.

Alte Möbel, wie sie unsere Eltern und Grosseltern besessen haben, machen die Räume gemütlich. Im Gang steht ein Sofa, bezogen mit Brokatstoff. Eine ältere Frau schläft darauf. Eine grosse Polstergarnitur lädt zum Sitzen ein. Darauf sitzt ein Mann und sieht fern. In einem schönen Holzbuffet steht Geschirr mit Blumenmuster und Goldrand. Vergilbte schwarzweisse Hochzeits- und Familienfotos in Silberrahmen, antike Dekorationen, Pflanzen und Bücher auf Kommoden und Schränken vermitteln eine wohnliche Atmosphäre. Der grosse, von der Wohnung her zugängliche Garten mit den Kleintieren, ist eingezäunt.

Am grossen Esstisch sitzen mehrere Frauen und Männer. Mit seligem Gesichtsausdruck wiegt eine Seniorin eine Puppe. Eine andere strickt an einem farbenfrohen Schal. Ein Mann ordnet Jasskarten nach einem System, das wohl nur er kennt. Liebevoll unterstützt eine Betreuerin einen Mann beim Essen des Desserts. Andere sitzen einfach da, mit abwesendem Gesichtsausdruck. Konzentriert faltet eine Frau Wäsche zusammen, immer wieder die gleichen Waschlappen. Eine elegante Dame ist zusammen mit einer Betreuerin am Backen. Sie sticht aus dem ausgewallten Teig Guetzli aus, legt sie ohne System auf ein Blech und nach dem Backen in eine Vorratsdose. Nachher kommt sie zu uns und sagt mit etwas empörtem Gesicht: «Diesmal habe ich ausnahmsweise bei dieser Arbeit geholfen, da viel zu tun ist. Aber ich habe klar gesagt, dass ich das nicht wieder mache.» Ob sie in ihrem früheren Leben wohl ein Geschäft und Angestellte hatte? - Strahlend begrüsst uns ein kleiner Mann und sagt charmant: «Schöne Frauen und Männer anschauen.» Wir kennen das schon, so begrüsst er alle.

Den Moment geniessen

Maria, die wir besuchen möchten, sitzt an einem Tisch. Aus mehreren Fläschchen mit Nagellack hat sie eine glitzerndes Rosa auswählt. Sorgfältig lackiert eine Betreuerin der ehemaligen Bäuerin die Fingernägel, aufmerksam von der knapp 90-jährigen Frau beobachtet. Wir treten an den Tisch, begrüssen Maria. Sie strahlt und sagt: «Ich habe doch gedacht, dass ich euch kenne.» «Natürlich», erwidere ich, «du hast den Mann an meiner Seite ja geboren.» Hell lacht sie auf und erwidert, «DEN sicher nicht, dazu bin ich doch noch viel zu jung.» Wir berichtigen nicht.

Während uns solche Aussagen am Anfang von Marias Demenzerkrankung schmerzten und irritierten, haben wir inzwischen gelernt, uns einfach in jene Zeit zu begeben, in der die Seniorin gerade zu sein glaubt. Heute fühlt sie sich etwa 15-jährig. Lebhaft erzählt sie, wie sie zusammen mit ihrer Mutter Telegramme zustellt. Bei jedem Wetter und oft kilometerweit bis in entlegenste Gebiete. Detailliert schildert sie auch das Geschäft ihrer Tante, die einen Laden mit Wolle und Mercerieartikeln führte. Das mag 70 Jahre her sein – für Maria ist es aktuell und wir geniessen ihre Lebhaftigkeit, lassen der Wehmut keinen Raum.

Abschied in kleinen Schritten

Das Leben als Bäuerin, Mutter vieler Kinder und mehrfache Grossmutter, ihren verstorbenen Mann, den langjährigen Wohnort: All das hat sie vergessen, während ihre Kindheit zeitweise noch präsent ist. Doch sie scheint glücklich, hat einen Humor, der im vorherigen Leben kaum spürbar war. Sie geniesst den gemeinsamen Kaffee und die Süssigkeiten in der Cafeteria des Heims und verabschiedet uns fröhlich, wenn wir sie zurück in ihre geschlossene Wohngruppe bringen. Nachdenklich verlassen wir das Haus, in dem so viele Menschen zusammenleben, die ihre Vergangenheit vergessen haben.

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