«Für Kino und Kirche gilt: Du sollst nicht langweilen.»

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04.09.2019
Für Thomas Kroll, Theologe und Präsident der Ökumenischen Jury am Filmfestival von Locarno, passen Kirche und Kino gut zusammen: Beide erzählen existenzielle Geschichten, die ein Stück geronnenes Leben darstellen.

Herr Kroll, das Filmfestival 2019 von Locarno ist zu Ende. Wie hat es Ihnen gefallen?
Wunderbar! Ich war jetzt zum dritten Mal hier in Locarno und habe die Gastfreundschaft sehr geschätzt. Die Kollegen von «Interfilm» und «Signis» haben einen guten Job gemacht, so dass wir verschiedene Regisseure treffen konnten. Spannend war auch der Austausch in der Jury, vor allem mit der polnischen Kollegin. Es zeigte sich, dass die innerkatholischen Differenzen grösser sind als die ökumenischen. Und last but not least: Im Lago Maggiore zu schwimmen, ist eine wunderbare Sache.

Die Kirchen sind mit Jurys in Locarno, Berlin, Nyon und anderen Film-Festivals vor Ort. Was hat die Kirche mit dem Film zu tun?
Ich unterscheide da zwischen Kirche und Kino und Theologie und Film. Da sehe ich zahlreiche Parallelen. Das Kino ist ein grosser Andachtsraum. Wo gibt es sonst Orte, in denen so viele Leute andächtig zusammensitzen und sich gebannt auf etwas einlassen?

Beispielsweise in den Fussballstadien.
Aber im Kino und in der Kirche geschieht dies auf eine spezielle Weise. Hier werden Geschichten erzählt. Und für beide gilt, du sollst nicht langweilen. Regisseure wie Pfarrerinnen und Pfarrer stehen vor der Herausforderung, den Film und den Gottesdienst so zu inszenieren, dass sie die Besucher ansprechen.

Welchen Zusammenhang sehen Sie zwischen Film und Theologie?
Im Kino wie in der Kirche erleben die Leute ein Stück geronnenes Leben. Auch die Theologie soll ja nicht Dogmen predigen, sondern die Lebenspraxis aufgreifen. Das Kino ist diesbezüglich ein guter Lernort, in dem das Leben kondensiert wird. Und umgekehrt: Die Filmemacher tun gut daran, theologische Themen aufzugreifen und sich mit ihren Geschichten auf eine spirituelle Reise zu begeben. Die Regisseure sind ja daran interessiert, zu zeigen, was sich hinter den Dingen verbirgt. Das ist die Schnittstelle, wo sich Filmemacher und Theologen austauschen können.

Als Präsident der Ökumenischen Jury beurteilten Sie Filme. Was zeichnet einen guten Film aus?
Zum einen sollte er handwerklich gut gemacht sein, die Ästhetik, die Kameraarbeit und die Dramaturgie sollte stimmen. Zum anderen sollte ein Film Gefühle wecken. Das Kino ist eine grosse Emotionsmaschine, wenn es dem Regisseur gelingt, das Publikum zu fesseln und mitzunehmen. Die emotionale Kraft des Kinos ist unübertroffen. Natürlich sind die Vorlieben unterschiedlich. Der eine mag es drastischer, der andere kitschiger, der eine liebt rasantes Tempo und Action, der andere mag es ruhig. Ein guter Film bietet die Themenvielfalt und die Komplexität, die uns dazu anregen, über existenzielle Fragen nachzudenken. Ein guter Film nimmt uns auf eine spirituelle Reise mit. Ich merke, das hat mit mir und meinem Leben zu tun. Und ich kann mich und das Leben der anderen besser verstehen.

Haben Sie in Locarno gute Filme gesehen?
Durchaus, etwa den Schweizer Film «Zwingli», den ich für einen Gewinn halte. Oder die italienisch-argentinische Produktion «Maternal», die von der Ökumenischen Jury prämiert wurde. Mein persönlicher Favorit war der isländische Film «Echo». In 56 Szenen führt er durch die Weihnachts- und Silvestertage. Ich fragte mich dauernd, wie hängen die 56 unabhängigen Szenen zusammen? Trotzdem gelingt es dem Film, einen Spannungsbogen aufzubauen: Vom Anfang, an dem man den Sarg eines Kindes sieht, bis zum Ende, wo man die Geburt eines Kindes erlebt. Das ist grosses Kino.

Regisseur Wim Wenders war vor kurzem in Fribourg und sprach über den Begriff des liebevollen Blicks, den er auf seine Figuren und Geschichten wirft. Gab es diesen Blick auch in Locarno?
Ich habe über Wenders’ «Himmel über Berlin» promoviert. In diesem Film ist der liebevolle Blick allgegenwärtig und wichtiger als die Figuren. Auch in «Maternal» erzählt die Regisseurin Maura Delpero die Geschichte von den Nonnen, die sich um die Teenager-Mütter und ihre Kleinen kümmern, aus dieser Perspektive. Ich denke, dieser liebevolle Blick ist auch für die Kirche von Bedeutung. Man sollte ihn vermehrt einüben und könnte so der Welt einiges bieten.

Tilmann Zuber, kirchenbote-online, 4. September 2019

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