«Für mich ist die Appenzeller Kirche Heimat»

von Karin Steffen
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06.09.2022
Mit Martina Tapernoux-Tanner übernahm am 1. Januar 2022 bereits die zweite Frau das Präsidium der Evangelisch-reformierten Landeskirche beider Appenzell. Nach den ersten Monaten im Amt, traf sich die Kirchenratspräsidentin mit der Redaktorin des Magnets zum Interview.

Karin Steffen: Liebe Martina, seit gut fünf Monaten bist du im Amt. Bist du so gestartet, wie du es dir vorgestellt hast? 

Martina Tapernoux-Tanner: Ja und Nein. Ich habe grosse Freude an der Arbeit – und das habe ich mir erhofft oder gedacht. Aber was es alles beinhaltet, merke ich erst jetzt mit der Zeit. Mein Vorgänger, Koni Bruderer, hat mich gut informiert. Aber worum es wirklich geht, habe ich nicht vorausgesehen. Deshalb hat es von beidem etwas. 

Wie beginnt dein Arbeitstag? 

Morgens ist es bei uns wahrscheinlich so wie in vielen Familien. Bis alle aufgestanden sind, gefrühstückt und die Zähne geputzt haben, Prüfungen unterschrieben sind, …. ist es häufig turbulent. An den Tagen, an denen mein Mann zu Hause ist, kann ich losgehen. An «meinen» Tagen muss ich dann schauen, dass sich jemand dafür zuständig fühlt, den Zmorgetisch abzuräumen. 

Wer räumt dann auf, wenn niemand zuständig ist? 

 Das ist Gegenstand von Diskussionen. Die sind am Morgen anstrengend (lacht). Wenn alle aus dem Haus sind, mache ich mich an die Arbeit: einkaufen, putzen oder ins Büro in Trogen oder Heiden gehen. Die Arbeit als Pfarrerin und Kirchenratspräsidentin macht mir übrigens bedeutend mehr Freude als die Hausarbeit. Meine Tätigkeiten ausser Haus sind zum Teil absehbar und zum Teil sind sie unberechenbar. Und das gefällt mir. Wenn ich in Trogen arbeite, beginne ich immer mit einem Gespräch mit der Kirchenratsschreiberin Jacqueline Bruderer. Wir besprechen was ansteht, und wie ich die Aufgaben angehen könnte. Am Mittag esse ich entweder zuhause oder im Büro. 

Stichwort «Essen»: Was isst du am liebsten? 

Schokolade! Das war immer schon so und wird sicher auch so bleiben! Und da bin ich heikel. Am liebsten esse ich Milchschokolade eines bekannten Detailhändlers. Und sonst ernähre ich mich vegetarisch. Im Alter von 8 Jahren habe ich meinen Kopf durchgesetzt, als es zu Weihnachten ein Kaninchen gab. Ich empfand es als gemein, dass man dieses arme Tier tötete. Seit damals esse ich kein Fleisch mehr. 

Was macht dich wütend? 

Unehrlichkeit. Und die weltpolitische Lage. Zum Beispiel die Tatsache, dass es immer noch keine Lösung gibt, für die Menschen, die seit Jahren über das Mittelmeer oder die Balkanroute nach Europa kommen. Dass es einfach nicht möglich ist, dass diese Leute ein faires Asylverfahren erhalten, macht mich wütend. 

Und dann ärgert es mich, wenn ich Informationen nicht direkt erhalte. Im persönlichen Gespräch kann ich gut auf Fragen und Kritik reagieren. Aber um sieben Ecken herum wird es schwierig. 

Wie stehst zur Debatte, ob sich Kirche politisch äussern soll? Stichwort: «Konzernverantwortungsinitiative» 

Ich bin der Meinung, dass Politik grundsätzlich zu uns Menschen gehört. Wenn sich die Kirche nicht politisch äussern darf, heisst das auch, ein Teil von uns darf nicht in der Kirche existieren. Und das finde ich falsch. Deshalb meine ich, Kirche muss sich politisch äussern und engagieren. Aber nicht, indem sie Abstimmungsparolen herausgibt. Die Kirche muss – dem Evangelium gemäss – für Menschen einstehen.  Wenn es um Menschenrechte geht, um Menschenwürde, wenn es um faire Verteilung von Gütern geht, um Lebensgrundlagen, dann ist die Kirche auf jeden Fall gefordert, weil sie zu diesen Themen auch etwas zu sagen hat. Auch Klimagerechtigkeit ist ein wichtiges Thema, wo sich die Kirche noch mehr engagieren müsste. 

«Ich bin der Meinung, dass Politik grundsätzlich zu uns Menschen gehört.»

Wo möchtest du mit der Landeskirche hin? Hast du Ziele definiert, welche du erreichen möchtest oder lässt du es auf dich zukommen? 

Beides. Zum einen kann ich nicht alleine entscheiden. Der Kirchenrat ist ein 5er-Gremium, das gemeinsam Perspektiven erarbeitet. Zum anderen weiss ich natürlich schon, was ich möchte. Mir ist es wichtig, dass Menschen Annahme erfahren. Wir sind von Gott so geliebt wie wir sind, obwohl wir so sind wie wir sind. Wenn wir das mehr leben würden, dann ergäbe sich daraus ein ganz anderes Lebensgefühl, das unsere Gesellschaft völlig verändern würde. Wenn wir Glaubenden das mehr vermitteln und leben könnten, wäre ein grosses Ziel von mir erreicht.

Mitgliederzahlen nehmen in den letzten Jahren kontinuierlich ab. Woran, denkst du, liegt das?

Bei uns ist eine grosse Zahl der Abnahmen der Überalterung geschuldet. Das ist die eine Geschichte. Die andere tut mir mehr weh. Da gibt es Menschen, die sich nicht mit der Kirche identifizieren können, die die Haltung haben, wenn ich nicht Fussball spiele, bezahle ich auch keinen Beitrag für den Fussballclub. Mich macht das betroffen, weil ich weiss, dass ganz viel Kinder und Jugendliche in den Religionsunterricht gehen und religiöse Bildung erleben. Und wenn diese jungen Menschen, sobald sie eigenes Geld verdienen, austreten, dann schmerzt mich das. Ich glaube auch, dass es ein Megatrend in Westeuropa ist, sich nicht festzulegen. Das merken Vereine und Parteien genauso wie wir. 

Wir müssen unsere Mitgliederzahlen im Blick behalten und uns weiter engagieren, aber wir sollten uns auch nicht lähmen lassen. Wir im Appenzellerland halten diesen Megatrend nicht auf. Es tut uns als Kirche sicher besser, wenn wir nicht immer auf diese schwindenden Mitgliederzahlen schauen. Eine Studie aus Deutschland «Wachsen und Schrumpfen in Pommern» hat 13 Punkte formuliert, in welchen Kirchgemeinden die Mitgliederzahlen anwachsen. Und ein spannender aber simpler Punkt ist dieser: Wenn die Angestellten an ihrer Arbeit Freude haben, hat das Auswirkungen auf die Mitgliederzahlen in der Kirchgemeinde.  

Die Kirche hat auch viel zu bieten. Bei uns kann man spannende Berufe ausüben. Man ist ganz nah am Leben dran, mit all seinen Freuden und Schmerzen. Bei uns können Jugendliche in verantwortungsvolle Aufgaben hineinwachsen. Das stärkt sie für ihr Leben. In den Kirchgemeinden wird das gelebt. Und es ist bestimmt weiter ausbaubar. Das ist eine gute Perspektive für unsere Landeskirche.

«Wir sind von Gott so geliebt, wie wir sind, obwohl wir so sind wie wir sind.» 

Welches ist deine liebste Stelle in der Bibel?

Ich mag viele Bibelstellen und Kirchenlieder gern. Häufig begleitet mich ein Bibelwort oder eine Liedstrophe den ganzen Tag. «Zur Freiheit hat uns Christus befreit» oder «Lobe den Herrn, meine Seele, und vergiss nicht, was er dir Gutes getan hat». Oder «Im Dunkel unserer Nacht, entzünde das Feuer, das nie mehr erlischt». Oder «Wechselnde Pfade, Schatten und Licht. Alles ist Gnade, fürchte dich nicht». Es kommt also ganz auf die Stimmung an.

Was möchtest du unseren Magnet-Lesern sonst noch mitteilen?

Mich beeindrucken die vielen Leute, die sich für die Kirche engagieren. Die kleineren Kirchgemeinden zählen vielleicht 30, 35 Leute an ihrem Mitarbeitendenausflug, die grösseren 200. Es sind viele Menschen, die einen Beitrag leisten, um gemeinsam Kirche zu sein. Es sind Männer, Frauen und Kinder, die sich einsetzen, manchmal an der Kirche leiden und im Glauben und in der Gemeinschaft Heimat finden. 

In unserer Gesellschaft wird viel von uns allen erwartet. Mindestens 100 Prozent sind zu leisten. Für Gott ist das nicht wichtig. Auch 80 Prozent reichen. Oder 60. Das ist doch wunderbar entlastend. 

Liebe Martina, herzlichen Dank für das Gespräch. 

 

 

 

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