«Für uns steht die Not im Vordergrund»

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10.02.2022
Als eines der letzten westlichen Hilfswerke harrt die Schaffhauser Afghanistanhilfe im Land aus und verteilt dringend nötige Lebensmittel.

In Afghanistan herrscht Hunger. Die UNO geht davon aus, dass über 20 Millionen der ungefähr 36 Millionen Einwohner betroffen sind. «Die meisten Menschen sind völlig hoffnungslos, weil sie kein Geld mehr haben. Sie verkaufen ihre Töchter und ihr letztes Hab und Gut. Die Situation ist dramatisch», sagt Michael Kunz, Präsident der Afghanistanhilfe.

Diesen Sommer hat das Land eine grosse Dürre erlebt, darum sind die Vorratskammern leer. Zudem haben viele ihre Arbeit verloren, seit die Taliban das Land beherrschen. Und selbst diejenigen, die noch für die Taliban-Regierung arbeiten, sehen seit Monaten keinen Lohn mehr. Die afghanische Währung verliert von Tag zu Tag an Wert, das Bankwesen und die Wirtschaft sind zusammengebrochen.

Einen Monat überleben
Die meisten westlichen Hilfswerke haben sich aus Afghanistan zurückgezogen, weil kein Geld mehr ins Land transferiert werden darf: «Daran sind viele Organisationen gescheitert. Wir haben einen sicheren Weg gefunden, weiterhin Geld ins Land zu senden, um unsere Projekte weiterbetreiben zu können.» Die lokalen Projektpartner der Afghanistanhilfe stehen im Austausch mit den örtlichen Vertretern der Taliban, um die Hilfe in den Bereichen Gesundheit, Bildung und Nothilfe weiterzuleisten: «Wir suchen den Dialog, ohne die Taliban zu unterstützen.»

Der Kampf gegen den Hunger ist ein Wettlauf mit der Zeit. Bisher konnte die Afghanistanhilfe zehntausend Personen in verschiedenen Provinzen mit Lebensmittelpaketen versorgen. Ein solches Paket kostet 100 Franken und besteht aus 50 Kilogramm Mehl, 25 Kilogramm Reis, 16 Litern Öl, 7 Kilogramm Zucker, 7 Kilogramm Bohnen und einem Kilogramm Tee. Damit kommt eine achtköpfige Familie für einen Monat über die Runden. Doch die Not ist uferlos: «Wir befürchten, dass viele den Winter nicht überleben werden», sagt Michael Kunz.

Vor allem Frauen leiden
Das Regime der Taliban unterdrückt vor allem die Frauen. Ihnen ist der Zugang zum Bildungssystem nur eingeschränkt möglich. Sie dürfen ohne männliche Begleitung das Haus nicht mehr verlassen. «Die neuen Taliban sind die alten Taliban. Mit dem gemässigten Auftreten zu Beginn der Machtübernahme haben sie nur den Westen täuschen wollen. Die Realität ist leider eine andere», bestätigt Kunz.

Es gibt aber auch Lichtblicke: «In unseren Schulhäusern dürfen wir noch Mädchen unterrichten und unsere Krankenhäuser weiterführen.» Er begründet dies mit einem gewissen Vertrauen: «Die Taliban haben unsere Spitäler besucht und gesehen, dass wir professionell arbeiten, ohne korrupt zu sein. Wir verhalten uns als Hilfswerk absolut neutral und arbeiten an der Grundversorgung der Menschen im Land mit. Das haben sie verstanden.» Dieses Vertrauen gelte es zu stärken: «Auch das Taliban-Regime muss Dienstleistungen erbringen oder darf sie zumindest nicht verhindern. Sonst hat es auch diese Regierung schwer, an der Macht zu bleiben.»

Spürbare Solidarität
Die Afghanistanhilfe betreibt drei Waisenhäuser mit 200 Kindern, die dort leben. Andere junge Erwachsene studieren ausserhalb oder führen ein eigenes Leben. «Sie haben Angst, denn sie sind gut gebildet und deshalb einer besonderen Gefahr ausgesetzt. Das gilt auch für die Mädchen, die ab 12 Jahren verheiratet werden können. Wir arbeiten daran, sie mit der Hilfe einer kanadischen Stiftung ausser Landes zu bringen», berichtet Michael Kunz.

Die Mitarbeiter der Afghanistanhilfe kennen viele, die um ihr Leben fürchten, etwa einen befreundeten Journalisten, der sich seit Wochen in den Bergen versteckt hält, weil er auf der Todesliste der Taliban steht, Mitarbeiter, Freunde. «Wir würden die Leute gerne in der Schweiz in Sicherheit bringen. Aber uns sind die Hände gebunden, weil der Bund mit dem Erteilen humanitärer Visa äusserst restriktiv verfährt. Das ist frustrierend», sagt Kunz.

Hilfe leisten bleibt oberstes Ziel
Trotz allen Herausforderungen will die Afghanistanhilfe weiter für die Bevölkerung da sein: «Unser oberstes Ziel bleibt, Hilfe leisten zu können. Die Taliban-Regierung ist eine Realität, der wir uns stellen müssen. Ich glaube aber, dass die Leute in der Schweiz berührt sind vom Schicksal der Menschen in Afghanistan. Im Dezember erlebten wir die erfolgreichste Sammelaktion in der Geschichte unserer Organisation. Diese Solidarität zu spüren, gibt uns Kraft, um weiterzumachen», erklärt Michael Kunz.

Adriana Di Cesare, kirchenbote-online

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