«Fürchte dich nicht»
Sie gehören seit jeher zum Glitzern des Christbaums, zum Flackern der Kerzen, zum Schmelz der Stillen Nacht: «Hoch droben schwebt jubelnd der Engelein Chor.» Weihnachten ohne Engel geht gar nicht. Soviel Kitsch muss sein. Oder eben Romantik und Ergriffenheit. Je nachdem.
Nüchtern betrachtet, gibt es dafür gute theologische Gründe. Denn der Befund der Heiligen Schrift belegt eine auffällige Engeldichte rund um die Geburt ihres Messias. Schon Marias Schwangerschaft wird von einem Himmelsboten verkündet, einer jungen Frau, die darüber einigermassen geschockt war. «Fürchte dich nicht», so die Kunde. Am Tag der Niederkunft wendet sich erneut ein Flügelwesen an einigermassen geschockte Randfiguren, die Hirten: «Fürchtet euch nicht, gerade euch ist der Heiland geboren.» Und nach der Geburt kommt auch noch der Partner der jungen Mutter dran. Ein Engel empfiehlt ihm, seine männliche Männerrolle zu überdenken und sich lieber per sofort ganztags um Kind und Verlobte zu kümmern. «Fürchte dich nicht.»
Botenstoff gegen die Angst
Tatsächlich glauben heute mehr als zwei Drittel der Bevölkerung «sicher» oder «vielleicht» an Engel (siehe S. 4). Wahrscheinlich kennen Menschen heute noch Lebensangst. Und deshalb ist «Fürchte dich nicht» auch in der aufgeklärten Welt eine Botschaft, auf die nicht nur Spirituell-Suchende warten, wie Verdurstende aufs Wasser. Deshalb geht Weihnachten ohne Engel gar nicht. Bevor die Gesellschaft zu Silvester mit viel Gedöns die Dämonen der Furcht einzuschüchtern versucht, vergewissert sie sich der freundlichen Boten der Furchtlosigkeit.
Natürlich ist immer mal wieder von Menschen zu lesen, die, wie sie erzählen, reale Engelerscheinungen gehabt haben. Bei Unfällen zum Beispiel. Oder in Trauer. Von aussen ist das manchmal schwer zu verstehen, aber wohl auch nicht nötig. Denn wenn diese Wahrheit Betroffenen hilft, Angst zu meistern, ist sie wohl wahr, auch wenn sie subjektiv ist. Für viele scheint es trotzdem plausibler, Engel eher als Impulse, als Begegnungen oder Menschen zu verstehen, die Furcht mindern und Mut geben. Sagt man nicht nach einer solchen Glückerfahrung «Du warst ein Engel für mich». Und gelegentlich sagt das ja vielleicht auch mal jemand zu uns. «Du warst mein Engel.»
Von Gott her
Jemandem tatsächlich zum Engel zu werden, wäre so gesehen wichtiger, als über Engel zu spekulieren. Das Christentum ist eine praktische Religion. Es geht ihm ums Handeln, um Taten, die aus der Ergriffenheit und der Verbundenheit mit dem Heiligen wachsen. So können Menschen, aber auch Impulse und Einsichten zu Boten des Heiligen werden, eben zu «Engeln», wie die «Boten» auf lateinisch heissen. Der Benediktinermönch Anselm Grün meint deshalb: «Engel sind der Einbruch des Transzendenten in unsere Welt. Man kann von Engeln nicht sprechen, ohne von Gott zu sprechen. Sie sind seine Erfahrbarkeit.» Wenn das stimmt, singt der «Engelein Chor» nicht nur denen, die in ihrem Leben jubelnd hoch droben sind, sondern gerade auch jenen, die tief drunten trauern. Sie sind beide gemeint. Von Gott her.
Text: Reinhold Meier, Psychiatrie-Seelsorger und Journalist BR | Foto: Global Angel Wings Project – Kirchenbote SG, Dezember 2021
«Fürchte dich nicht»