Ganz Ohr sein - vomMutterleib bis zum Sterbebett
Ich könnte nicht mehr wie vergangenen Sonntag in einem Konzert sitzen (Gaia von Peter Roth), die Augen bisweilen schliessen und mich von den Klängen so füllen lassen, als wäre ich nur Ohr, als wäre ich Resonanzkörper für die Musik.
Frühe Bildung des Hörorgans
Unsere Ohren, sie sind ein phantastisches Organ! Die Bildung des Hörorgans beginnt bereits zwischen dem 15. und 18. Tag des Embryos, da ist er erst 2 mm gross! Ab der 22. Schwangerschaftswoche kann der Fötus hören (nicht aber sehen). Er hört anders als nach der Geburt, vielleicht eher den Delphinen und Walen vergleichbar, welche die Geräusche ausserhalb des Wassers auch hören können, aber in viel höheren Tonlagen. Der Schall gelangt über die Knochenleitung in seine Gehörschnecke. Ungeborene hören die Geräusche der Mutter und ihrer Organe, ihren Herzschlag und ihre Stimme. Auch können sie bereits Umgebungsgeräusche wahrnehmen. Wiederkehrende Melodien erkennen sie nach der Geburt und lassen sich dadurch beruhigen, ebenso natürlich durch die vertraute Stimme der Mutter.
Ihr Hörorgan ist nach der Geburt fertig ausgewachsen, nur die Ohrmuscheln werden grösser. Doch die winzigen Knöchelchen – die Kleinsten unseres Körpers – Hammer, Amboss und Steigbügel, die hinter dem Trommelfell den Schall an die Gehörschnecke weiterleiten, sind fertig ausgebildet.
Stimulation des Gehirns
Als junge Mutter, die ich einst war, faszinierten mich die Theorien von Alfred Tomatis, einem französischen HNO-Arzt und Pionier auf dem Gebiet des pränatalen Hörens, welcher eine Methode entwickelt hat, die das Gehirn stimuliert. Auf das pränatale Hören hin bearbeitete Musik wird sowohl über die Knochenleitung als auch über die Luftleitung gehört und spezifisch für die betreffende Person anhand ihres Hörspektrums bearbeitet. Sprach- und motorische Störungen und Aufmerksamkeitsdefizite können bei Kindern oft zum Besseren verändert werden und eine Energetisierung des Gehirns wird erreicht. Denn – Sie erraten es – die sensorische Stimulation des Gehirns erfolgt überwiegend durch das Ohr (80%). Und auch das Gleichgewichtsorgan, die Vestibula, sitzt in der Gehörschnecke.
Später als Spitalseelsorgerin begleitete ich auch Sterbende oder Menschen in einem Koma auf Intensivstationen. Die Augen waren geschlossen, Sprechen nicht mehr möglich. Doch oft konnte ich wahrnehmen, dass sehr wohl gehört wurde, was gesprochen wurde. Feine Signale, das leichte Flattern von Lidern, ein veränderter Puls, ein anderer Hauttonus, ein Schlucken oder eine veränderte Atmung, manchmal auch nur veränderte Kurven auf dem Bildschirm der Intensivstation machten dies wahrnehmbar. Eindrücklich einmal eine Segens- und Abschiedsfeier auf der Intensivstation im Kreis aller Angehörigen, als plötzlich die Pflegefachfrau auf den Bildschirm mit den veränderten Kurven wies.
Interessanterweise „hören“ in solchen Momenten auch schwerhörige Patienten oft wieder (so wie auch demente Menschen in Sterbeprozessen Augenblicke von luzider Klarheit haben können).
Das Hören ist also unser erster und zugleich letzter Sinn. Wir Menschen sind zutiefst hörende Wesen.
Zorn raubt das Hören
Sehr vieles von unserer Kommunikation läuft über das Gehör. Wir hören und sprechen. Und wir hören nicht nur die Worte, sondern auch den Klang der Stimme, die Modulation, leise Seufzer, das Sprechtempo, die Emotionen, die sich nicht nur in Worten, sondern auch in der Art des Sprechens ausdrücken. Auch unsere Muttersprache gehört dazu.
Wenn ich über sie nachsinne, kommt mir ein Wort in den Sinn, aus meinem berndeutschen Dialekt: „Toube si“ oder „töibbele“ sind Ausdrücke, die deutlich machen, dass jemand wütend oder am Trotzen ist. Und sie haben denselben Wortstamm wie „toub“, also gehörlos sein. Und in der Tat, wenn ich von Zorn erfüllt bin, dann kann ich nicht mehr hören. Ob ich nun als kleines Kind in einem Trotzanfall stecke oder ob ich als erwachsener Mensch von Zorn gepackt bin, ich kann mein Gegenüber nicht mehr wahrnehmen. Der Zorn hat mir vorübergehend das Hören geraubt (und er kann auch das Sehen rauben – „blind vor Zorn“).
Vielleicht zeigt dieser Zusammenhang auch auf, dass das Hören viel mit unseren Emotionen zu tun hat. Die Musik, die mich erfüllte am oben erwähnten Konzert löste in mir Gefühle aus, die sich nur schwer beschreiben lassen. Von Ergriffenheit über Staunen und Freude bis hin zu Einheitsgefühlen. Umgekehrt kann mich Gehörtes in Schrecken versetzen, ängstigen, wütend machen oder von einer Qualität sein, in der ich lieber gerne weghören würde.
Hörende Tierarten, die eine reiche, differenzierte sprachliche Kommunikation haben wie Wale und Delphine, sind überaus friedliche und soziale Tiere. Wohingegen Raubtiere oft ein ausgeprägtes Sehvermögen haben, am Eindrücklichsten sicherlich der Adler, der seine Beute in der Grösse einer Maus mit drei Kilometer Distanz erkennen kann!
Gottes Stimme hören
Ob wir als Menschen wieder mehr zu Hörenden werden sollten?
Über meinem Bett hängt seit vielen Jahren eine Reproduktion des Glasbildes Felix Hoffmanns aus der ref. Kirche Bellach mit dem Titel Hören. Diese ganz nach innen gewandte Aufmerksamkeit, das tiefe Lauschen, die Heilige Geistkraft als weisse Taube beim Ohr, erinnern mich immer wieder daran, dass ich als Hörende unterwegs bin, hörend auf die Stimme Gottes. Alle Gebete sind eine Form von Kommunikation. Psalmen bitten Gott um Gehör oder wissen darum, dass Gott hört, oder sie beklagen sein Schweigen. Gott spricht sein Volk an als eines mit tauben Ohren, das nicht zu hören vermag. Da sind all die Prophetinnen und Propheten, radikal Hörende, die auch Unbequemes verkündeten. Und Jesus erweist sich als Hörender, indem er sich immer wieder zurückzieht in die Einsamkeit und daraus sein Wirken, sein Reden und Sein schöpft.
Ich bin mir bewusst, dass das Hören auf Gott missbraucht werden kann und auch wird. Ich bin skeptisch, wenn Menschen selbstsicher von sich behaupten, Gott hätte ihnen das gesagt, sie würden in seinem Auftrag handeln. Und dann werden Waffen gesegnet, Kriege gutgeheissen, Verfolgung Andersdenkender gerechtfertigt, Unterdrückung von Minderheiten sanktioniert.
Doch ich glaube, Gottes Stimme ist immer eine, die wie damals bei Elia auf dem Berg Horeb im Verwehen eines Windhauchs gehört wird. Stille, nicht Gewalt, liegt in ihr. Ihr Ruf ist Liebe, und ihr zu lauschen gelingt, wenn wir als Hörende uns auch der Stille aussetzen.
Würde es uns vielleicht ergehen wie den Walen und Delphinen, dass wir friedlicher werden würden, wenn wir anfangen würden, mehr zu hören. Aufeinander, auf uns selbst, auf Gott, auf die ganze Schöpfung?
Und daher vermute ich, heute könnte ich damit umgehen, sollte ich ertauben. Ich würde darunter leiden, sehr sogar, aber die inneren Klänge wären immer noch da, und das Lauschen auf die Stimme von Gottes Liebeskraft, dazu braucht es keine äusseren Ohren.
Annette Spitzenberg
Ganz Ohr sein - vomMutterleib bis zum Sterbebett