Geister, Granaten und Gebetszeiten – wozu Glocken dienten
«Süsser die Glocken nie klingen als zu der Weihnachtszeit» – das bekannte Weihnachtslied aus dem 19. Jahrhundert mag für Hörerinnen und Hörer die Grenze zum Kitsch überschreiten. Es besingt den heiligen Glockenklang, der, «als ob Engelein singen», von «Frieden und Freud’» kündet. Nur der Eierkuchen fehlt.
Von Frieden und Freude war wenig zu hören, als in der Weihnachtszeit im Jahr 1917 die deutschen Kirchenglocken erklangen. Aus dem «lieblichen Schalle» und «heiligen Klang», wie der Glockengklang im Lied genannt wird, war Geschützdonnerlärm geworden. Denn die deutschen Kirchenglocken waren im Frühjahr zu Zehntausenden vom Berliner Kriegsministerium zwangsweise eingezogen worden. Rund die Hälfte der Glocken wurde von der sogenannten «Metallmobilmachungsstelle» eingeschmolzen. Nun zerfetzten die zu Granaten verarbeiteten Glocken die Soldaten der Entente.
Glocken sollten Dämonen verjagen
Zum ersten Mal wurden Glocken im Christentum wohl im 4. Jahrhundert verwendet: Koptische Mönche strukturierten mit Glocken den Tagesablauf und riefen mit ihnen zum Gebet. Dabei stand das frühe Christentum den Glocken zunächst ablehnend gegenüber. Denn der Glockenklang, so der verbreitete Glaube, vertreibe Dämonen und besänftige die Götter – was die frühen Christen als heidnischen Kult entschieden ablehnten.
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Seit 1499 überlebte die Gloriosa Blitzeinschläge und einen Turmbrand – den Turm verliess sie in nur einmal für für eine Reparatur.
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Irische und bretonische Mönche brachten die Glocken im Rahmen ihrer Missionstätigkeit schliesslich nach Europa. Mit Handglocken riefen sie die Menschen zusammen, um ihnen das Evangelium zu verkünden. Im 8. und 9. Jahrhundert begann man dann zuerst in Italien, grössere Glocken zu giessen und in Türmen aufzuhängen. Allerdings zunächst nicht in den Kirchtürme, die damals ebenfalls aufkamen, sondern in eigens gebauten, frei stehenden Glockentürmen. Warum für die Glocken eigene Türme gebaut wurden, ist unklar. Vermutlich befürchtete man, die Schwingungen der Glocken könnten die Gebäude zum Einsturz bringen.
In welchem Turm auch immer die Glocken hingen – der Gebrauch war vielfältig: Das Geläut rief zum Gottesdienst, warnte vor Feuer und anderen Katastrophen, zeigte Tages- und Gebetszeiten an und markierte die Feiertage.
Wie man glocken stimmt
Im Verlauf des Mittelalters machte das Handwerk des Glockengiessens Fortschritte in Bezug auf Form, Material und Stimmung. Ein Glockenklang besteht nämlich aus mehreren Teiltönen. Bestimmt werden sie durch das Material und die Form der Glocke. Standard ist eine Bronzelegierung aus 78 Prozent Kupfer und 22 Prozent Zinn. Bei gleicher Form und gleicher Legierung ist die Frequenz einer Glocke – also die Tonhöhe – umgekehrt proportional zum Innendurchmesser. So kann man die Tonhöhe einer Glocke vor dem Giessen vorausberechnen.
Trotzdem ist es oft nötig, Glocken nachzustimmen. Dabei wird die Glocke von innen ausgeschliffen. Dadurch wird der Innendurchmesser grösser und der Ton tiefer. Bei grösseren Glocken können schon mal 100 kg rausgeschliffen werden. Höher stimmt man die Glocke, indem man unten vorsichtig den Rand abschleift. Dadurch wird die Glocke kürzer. Da sie sich gegen oben verjüngt, wird so der Durchmesser kleiner und der Ton wird höher. Da dieses Vorgehen aber heikel ist, werden die Glocken eher zu hoch gegossen und dann beim Nachstimmen gegen unten angepasst.
Eine Glocke so schwer wie acht Autos
Als Erster nutzte Gerhard van Wou im 15. Jahrhundert die Abhängikeit von Innendurchmesser und Frequenz, um die Tonhöhe vorauszuberechnen. Der Niederländer gilt als unübertroffener Meister des Glockenbaus. Sein berühmtestes Werk, die Gloriosa, wurde 1499 im Erfurter Dom montiert. Dort hängt sie bis heute. Sie überlebte Blitzschläge und einen Turmbrand. Nur ein einziges Mal verliess sie im Jahr 2004 den Turm für eine Reparatur. Die Gloriosa ist ein Monstrum: Sie ist mehr als zweieinhalb Meter hoch und bringt etwa 11,5 Tonnen auf die Waage. Der Klöppel schlägt noch einmal mit 366 kg zu Buche.
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Als Pfarrer und Mesmer sich weigerten, den Schlüssel herauszugeben, brach der Mob die Türe zum Turm auf und liess die Glocken läuten.
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Bei diesen Dimensionen wird klar, weshalb die Heeresleitung im 1. Weltkrieg in Versuchung geriet, bei Rohstoffknappheit Kirchenglocken anzutasten. Auf Widerstand seitens der Kirchenleitungen stiess die «Metallmobilmachung» kaum. Im Gegenteil: «Von grösstem Werte ist es, wenn in dieser hochwertigen Sache die Zivil- und Militärbehörden durch die Herren Geistlichen unterstützt würden, deren vaterländischer Sinn sich im Laufe des Krieges so oft bewährt hat», schrieb etwa das Konsistorium der pfälzischen Protestanten. Widerstand gab es, wenn überhaupt, auf lokaler Ebene: von Menschen in Dörfern und Quartieren, von Kirchgemeinden, die sich für «ihre» Glocke einsetzten.
Mob stürmte Kirche um zu läuten
Aus ganz anderem Grund kam es im August desselben Jahres in Zürich zu einem Skandal. Pfarrer und Behörde der Kirchgemeinde Wipkingen weigerten sich, die Glocken am 1. August läuten zu lassen – als Protest gegen die Verurteilung des Schweizer Kriegsdienstverweigerers Max Kleiber. Das traditionelle Geläut zum Nationalfeiertag war 1899 vom Bundesrat eingeführt worden.
Der fehlende patriotische Glockenklang erzürnte die Gemüter. Ein Mob von 50 Menschen zog zum Pfarrer und zum Mesmer. Als diese sich weigerten, die Schlüssel zum Turm auszuhändigen, brach der Mob kurzerhand die Türen auf. Mit Verspätung kam der Nationalfeiertag so doch noch zum patriotischen Glockenklang. Kirchenglocken vermochten schon damals die Gemüter zu erhitzen – in diesem Fall sogar, indem das Läuten ausblieb.
Text: Stefan Degen | Fotos: Pixabay / epd-bild / Maik Schuck – Kirchenbote SG, Dezember 2022
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Geister, Granaten und Gebetszeiten – wozu Glocken dienten