«Gell, du kennsch mi nüd»
Ich bin in einem katholischen Gebiet aufgewachsen und liebte die Fasnacht, die Möglichkeit, in eine fremde Rolle zu schlüpfen. Später geriet das Verkleiden aus dem Blick, bis ich wieder in einer Gemeinde sesshaft wurde, die eine Fasnachtstradition kennt. Erwachsen, mit einem Mann an der Seite, wollte ich auch mal an den Fasnachtsball. Wir entschieden uns für Halbmasken, damit wir auch etwas trinken konnten. Mit rabenschwarzer Perücke und hochhackigen Schuhen wankte ich an der Hand meines als Gondoliere verkleideten Mannes in den Saal. Im Gegensatz zu den Schutzmasken entstellen die Halbmasken den Blick völlig. Mit der festgelegten Mimik fühlte ich mich entfremdet. Ich hatte den Eindruck, dass die Leute mir ungenierter in die Augen schauten. Ein Gefühl der Schutzlosigkeit kam auf. Aber genau in dem Moment, als alle zur Musik wippten, zog mein Mann seine Maske aus – und ich war auch enttarnt.
Mit rabenschwarzer Perücke und hochhackigen Schuhen wankte ich an der Hand meines als Gondoliere verkleideten Mannes in den Saal.
«Was – ihr seid bei uns an der Fasnacht!» Grosses Erstaunen und Freude bei den Verantwortlichen des Balls. Innert Sekunden waren wir wieder das Ehepaar, das man doch schon längst kannte. Die Gespräche waren wieder in der Art, wie man sich nach einer Sitzung im Restaurant austauscht. Höflich, wohlwissend, dass man in den nächsten Wochen aufeinander angewiesen ist.
Trägerin einer Rolle
Naiv, wie ich war, habe ich beim Fasnachtsball an den Farbenzauber, an die Musik gedacht. Mir war nicht bewusst, dass wir im Dorf schon als Träger einer Rolle verstanden wurden. Ich liebe Verkleidungen. Aber ehrlich, nach dieser Erfahrung sind mir Masken, die Augen bewusst entstellen, unsympathisch. Ich glaube, dass wir alle schon genug sichtbare und unsichtbare Masken tragen.
Das närrische Treiben kann durchaus ein Spiel sein, das die Frage nach der eigenen Identität berührt. In der Bibel, vor allem in den Psalmen, wird immer wieder darauf hingewiesen, dass Gott uns richtig kennt, dass Selbsterkenntnis durch Gotteserkenntnis möglich ist. Zum Beispiel im Psalm 139,23-24: «Erforsche mich, Gott, und erkenne mein Herz, prüfe mich und erkenne meine Gedanken. Sieh, ob ein gottloser Weg mich verführt, und leite mich auf ewigem Weg.»
Text: Brigitta Schmidt, Pfarrerin, Ganterschwil | Foto: Pixabay – Kirchenbote SG, Februar 2021
«Gell, du kennsch mi nüd»