Gesehen und behütet

von Rita Famos, Präsidentin EKS, kirchenbote-online
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04.01.2023
«Du bist ein Gott, der mich sieht.» Genesis 16.13

Wir wollen gesehen werden. Aufmerksamkeit ist in Beziehungen der Kitt, der durch Konflikte zusammenhält. Nicht nur wir als Personen wünschen uns Aufmerksamkeit. Auch Unternehmen, politische Parteien, Medien, Kirchen wollen wahrgenommen werden. Wer gesehen wird, fühlt sich relevant und bedeutend. Wer nicht wahrgenommen wird, verkümmert oder geht ein.

Woran erkennen wir, dass wir gesehen, wahrgenommen werden? Wenn unsere Liebsten uns kleine Aufmerksamkeiten widmen, uns Komplimente machen? Oder auch nur, wenn sie uns richtig zuhören und uns verstehen?

Die Jahreslosung stellt einen der vielen Gottesnamen an den Anfang unseres Jahres: El Roi – der Gott des Sehens, oder wie es die Lutherbibel übersetzt: «Du bist ein Gott, der mich sieht.»

Der biblische Zusammenhang, aus dem diese schöne Aussage hervorgeht, ist jedoch alles andere als eine unproblematische Geschichte. Sara, die Frau Abrams, kann keine Kinder mehr bekommen. An ihrer Stelle soll ihre Dienerin Hagar zusammen mit Abram die Nachkommenschaft sichern. Jedoch: Kaum ist Hagar schwanger, wird Sara eifersüchtig. Sie quält ihre Dienerin, bis diese es nicht mehr ertragen kann und flieht.

Auf der Flucht erscheint Hagar ein Engel, der sie zu Sara zurückschickt, ihr aber gleichzeitig eine grosse Nachkommenschaft verspricht und einen starken Sohn, den sie Ismael nennen soll: Gott hört. Darauf spricht sie Gott als El Roi an: «Du bist ein Gott, der mich sieht», und kehrt zurück in die konfliktschwangere Situation im Hause von Abram und Sara. Sie geht als eine von Gott Gesehene zurück: Sie ist zuversichtlich, dass sie allen Schikanen zum Trot z einen gesunden, starken Jungen gebären wird. Gott sieht sie nicht nur, sondern hat sie «ersehen». Sie ist ausgewählt. Sie hat einen Platz in der Welt, den ihr Sara nicht streitig machen kann. Gottes Zusage gilt – komme, was wolle. Die Umstände mögen grauenhaft sein. Aber Hagar ist mehr, als diese Umstände ihr suggerieren, und Gott kommt mit ihr ans Ziel.

Manchmal wünschen wir uns einen anderen Gott. Einen, der die Missstände beseitigt, einen, der als strahlender Held eingreift und für Gerechtigkeit sorgt. Manche verlieren ob all des Schrecklichen in der Welt das Zutrauen in Gott. Die Jahreslosung will unsere Hoffnung und Zuversicht stärken, dass auch dort, wo wir nicht durchblicken und weitersehen, Gott uns sieht, mit uns eine Zukunft im Blick hat und zu uns schaut. Er «lässt sein Angesicht leuchten über uns», wie es im aaronitischen Segen heisst. Über uns und all denjenigen, die gar nicht mehr hinsehen mögen, und über denjenigen, die übersehen wurden. Mit denjenigen, die nach Anerkennung heischen und um Aufmerksamkeit streiten, können wir aufblicken. Weil da ein umsichtiger Gott ist.

Anstatt uns zu fragen, ob wir auch gesehen werden, können wir zuversichtlich und selbstbewusst unseren Auftrag leben: Weil Gott uns sieht und uns dazu ausersehen hat. Ich wünsche uns für dieses Jahr die Aufmerksamkeit für das, wozu wir ersehen sind.

Rita Famos, Präsidentin der Evangelisch-reformierten Kirche Schweiz, kirchenbote-online

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