Gott im Blätterrauschen

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19.01.2018
Wandern, Biken, Schwimmen, Tauchen, Klettern, Skifahren, Surfen, Segeln, Campen, Angeln, Jagen — das sind nur ein paar der Aktivitäten, denen viele von uns in der Natur nachgehen. Natur boomt derzeit ohne Ende.

Der Schweizer Alpenclub verzeichnet seit Jahren steigende Mitgliederzahlen. Die Berg-hütten können sich des Ansturms kaum noch erwehren. Immer mehr Menschen drängt es raus in die Natur. Und nicht nur die Sportlichen und Ambitionierten suchen Naturräume verstärkt auf. Auch die Ruhigen und Sanften schultern den Rucksack und schnüren die Wanderschuhe auf der Suche nach…– und hier beginnt die Sache schwierig zu werden. 

 

Denn für die Sportler bildet die Natur die mehr oder weniger geeignete Kulisse, um sich neuen Herausforderungen zu stellen und die eigenen Höchstleistungen zu messen und zu steigern: höher, schneller, weiter über Berge und Seen. Doch daneben gibt es nicht wenige, die in der Natur etwas völlig anderes suchen. Für sie stellt die Natur eine Art
Gegenwelt dar, in der sie dem Alltäglichen entkommen möchten, um dem «Erhabenen» oder gar dem «Göttlichen» zu begegnen. 

«Viele Schweizer würden auf die Frage, wo sie denn meinen, Gott begegnen zu können, ganz sicher die Natur nennen.»

Viele Schweizer würden auf die Frage, wo sie denn meinen, Gott begegnen zu können, ganz sicher die Natur nennen. Oben auf dem Gipfel eines Berges, den Wind in den Haaren, die ziehenden Wolken zum Greifen nah, scheint auch Gott nah zu sein. Religiöse Erfahrungen verbinden nicht wenige mit ergreifenden Naturerfahrungen zu Lande, zu Wasser und in den Lüften. Wenn uns die Naturgewalten umgeben, ergreifen und nicht selten über-wältigen, stellt sich zumindest eine Ahnung dessen ein, was wir unter Gott verstehen.

Lesen im Buch der Natur
Dass Kinder Naturerfahrungen für eine gesunde Entwicklung brauchen, gilt unter Psychologen längst als anerkanntes Faktum. Inwiefern allerdings der Kontakt zur Natur auch für die religiöse Entwicklung und die Spiritualität des Einzelnen von Bedeutung ist, scheint nach wie vor umstritten zu sein. Obwohl der Kirchenvater Augustin bereits im 4. Jahrhundert die Natur als zweites Buch Gottes neben die Heilige Schrift stellte, ist es bis heute umstritten, ob und inwiefern die Natur als Erfahrungsort Gottes in Betracht zu ziehen ist.

Ist Gott im Blätterrauschen zu vernehmen?
Ob Gott nur im Blätterrauschen der Bibel oder auch im Blätterrauschen der Bäume zu vernehmen ist, bleibt auch in der Gegenwart eine offene religiöse Frage. Dabei hatte der englische Kinderarzt und Psychoanalytiker Donald W. Winnicott bereits in den 60er-Jahren des vergangenen Jahrhunderts herausgefunden, dass es für das menschliche Erleben «intermediäre Räume», also Zwischenräume, gibt, in denen der Einzelne nicht zwischen eignem Erleben (Subjektivität) und äusserer Realität (Objektivität) unterscheiden muss. Winnicott sprach davon, dass in diesen intermediären Räumen nicht gefragt wird, ob etwas «gefunden oder erfunden» wurde. 

Zwischenräume
Wenn wir also nach Spuren Gottes suchen, könnte eben gerade die Natur ein solcher «Zwischenraum» sein, in dem sich Erfahrungen einstellen, die die übliche Trennung von Subjekt und Objekt, von Ich und Welt übersteigen. Wir hören die Stimme Gottes, lesen seine Handschrift in der Natur, er spricht uns an, widerspricht und entspricht uns, weil unsere alltäglichen Gewohnheiten und Rationalitäten überstiegen und ausser Kraft gesetzt werden.

Auf dem Weg zur eigenen Waldkirche
In England gibt es seit etlichen Jahren sogenannte Waldkirchen (forest churches), die solchen Erfahrungen nachgehen, sie fördern und den Rahmen schaffen, um Gotteserfahrungen jenseits der Kirchenmauern zu machen. In der Kirchengemeinde St.Gallen Straubenzell möchten wir nun beginnen, über eine solche «Waldkirche» nachzudenken, um auch Menschen, die Mühe mit der üblichen Kirchlichkeit haben, einen Zugang zu Gotteserfahrungen zu ermöglichen.

 

Text: Uwe Habenicht, Pfarrer in St.Gallen West–Straubenzell, Foto: Wolfgang Schneider – Kirchenbote SG, Februar 2018

 

 

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