Gott im Home Office
Meine Enkelin (6) – die mir hoffentlich verzeiht, dass ich sie so oft zitiere – zu meiner Tochter: «Ich ha di so gärn, bis zum Wältruum wo dr Gott si Büro het.» Ganz abgesehen davon, dass dies eine wundervolle Liebeserklärung ist: Wie kommt sie auf solche Ideen? Wir wissen es nicht.
Dass Gott irgendwo da oben wohnt, ist eine verbreitete Vorstellung. Aber sein Büro? Macht Gott Home Office? Wer mit wachem Blick in die Welt schaut, könnte schon auf diese Idee kommen. So viele schlechte Nachrichten prasseln auf uns ein, Tag für Tag für Tag. Schlimme Nachrichten von heute werden morgen von noch schrecklicheren abgelöst. Wenn in einem fernen Land Menschen durch ein Erdbeben umkommen, nehmen wir das gar nicht mehr zur Kenntnis. Es ist zu wenig schlimm neben allem anderen, höchstens eine Kurznotiz wert, irgendwo auf Seite 14. Überschwemmungen in Italien? Oje. Aber bis wir nächstes Jahr in den Ferien dorthin fahren, haben sie sicher wieder aufgeräumt. Zeitungsverlage und andere Medien müssen Geld sparen, darum entlassen sie Menschen. Immer weniger Journalisten müssen immer mehr polarisierend schreiben. Unseren täglichen Skandal gib uns heute. Es zählen nur Klicks.
Und dann, mein lieber Gott, grassiert wieder der Antisemitismus. Nichts hat die Menschheit gelernt, gar nichts. Bist du im Home Office, Gott? Kriegst du das alles noch mit, was auf unserem kleinen Planeten geschieht? Oder bist du gerade in einer Zoom-Sitzung mit Wesen aus der Andromeda-Galaxie? Sind die, so seltsam sie aussehen mögen, friedlicher als wir? Sozialer? Gerechter? Vernünftiger? Hast du genug von der Menschheit?
Ich muss zugeben, dass ich es dir nicht wirklich verdenken könnte.
Andererseits. Andererseits muss ich dich sicher nicht an die Geschichte von Noah und der Flut erinnern. Danach hat es dich gereut und du hast den Regenbogen in die Wolken gesetzt, als Zeichen zu deiner und unserer Erinnerung. Ja, natürlich, das ist eine Geschichte des kindlichen Vertrauens. Es liesse sich alles auch wissenschaftlich erklären. Nur: Was erklärt das wirklich über uns und unser Leben?
Bald kommt der Advent. Wäre jetzt nicht die Zeit gekommen, wieder einmal aus dem Home Office zu kommen, Gott? Sieh dir die Kinder an, die leiden und sterben. Sieh dir auch die Kinder an, die kindlich vertrauen lernen. In andere Menschen, in sich selbst und in dich. Für dich ist es ein kleiner Schritt, dein Büro zu verlassen. Für uns bedeutet es alles. Damit wir dich und einander lieben lernen, «bis zum Wältruum».
Martin Dürr
Martin Dürr ist Pfarrer und Leiter des Pfarramts für Industrie und Wirtschaft Basel-Stadt und Baselland.
Gott im Home Office