«Gottes Liebe ist viel umfassender»
«Wenn die Ehe für alle bei der Volksabstimmung am 26. September angenommen wird, können wir im dritten Anlauf endlich richtig heiraten», freut sich Hebamme Eva Kaderli lachend. Zum Lachen war ihr und Sara Folloni in ihrer Liebesbeziehung aber nicht immer. Die ersten Jahre waren eine grosse Herausforderung.
Weltbild brach zusammen
Die beiden Aargauerinnen lernten sich als Teenager in der Jungschar einer Freikirche kennen. «Wir haben uns dort sehr wohlgefühlt. Es hatte viele Gleichaltrige. Wir machten Musik, durften uns bewegen, laut singen und beten, auch anziehen, was wir wollten», erinnert sich Kantonsschullehrerin Sara Folloni. «Äusserlich kam diese Freikirche sehr fortschrittlich daher, aber im Denken war sie dogmatisch und verkrustet.»
«Ich habe mich zig Mal von Sara getrennt und so oft gebetet, dass Gott diese enorme Anziehungskraft, die sie auf mich ausübt, wieder von mir nimmt.»
Eva Kaderli
Als junge Erwachsene merkten sie, dass sie Gefühle füreinander entwickelten, die über «beste Freundinnen» hinausgingen. «Ich realisierte, dass ich mich in Sara verliebt hatte», erzählt Kaderli. «Hilfe! Da brach ein Weltbild zusammen.» In der Jungschar sei das Thema nur mal gestreift worden. Aber mit einer klaren Aussage: Homosexualität, die geht gar nicht! «Sie wurde in einem Atemzug mit Alkohol- und Drogenkonsum, Stehlen und Pornografie genannt.»
Weg des Segens, weg des Fluches
Es dauerte eineinhalb Jahre, bis Kaderli und Folloni ihre Liebe leben konnten. «Das Coming-out an sich ist ja schon für jeden Menschen eine grosse Herausforderung, weil die Homosexualität nicht der Norm entspricht und man kaum jemanden kennt, der mit ihr Erfahrung hat», erklärt Folloni. «Aber wir wussten, dass wir praktisch unseren ganzen Freundeskreis verlieren, wenn wir uns zu ihr bekennen.» Vor allem für Kaderli war es ein langer Prozess. «Ich habe mich zig Mal von Sara getrennt und so oft gebetet, dass Gott diese enorme Anziehungskraft, die sie auf mich ausübt, wieder von mir nimmt. Aber es ist nicht passiert. Ich kam zur Überzeugung, dass Gottes Liebe noch viel grösser und umfassender ist als in den Glaubenssätzen, die uns bisher vermittelt wurden.» Schliesslich traten sie aus der Freikirche aus, um einem Ausschluss zuvorzukommen. Man gab ihnen mit auf den Weg: «Es gibt einen Weg des Segens und einen Weg des Fluches. Und ihr begebt euch auf den Weg des Fluches.»
«Da ein Traugottesdienst noch nicht möglich war, wollten wir uns immerhin segnen lassen.»
Sara Folloni
Nach dem Coming-out gegenüber ihren Eltern, denen es sehr schwer fiel, damit umzugehen, zogen sie zu Hause aus und «flüchteten» von den Agglomerationsgemeinden in die Stadt Zürich. Dort gibt es eine grosse LGBT-Community, in der sie sich nicht mehr wie Exotinnen vorkommen. Mit der Freikirche EMK (Evangelisch-Methodistischen Kirche) fanden sie eine fortschrittlichere Glaubensgemeinschaft, in der sie sich wieder heimisch fühlen. Nachdem Zürich 2002 als erster Kanton die registrierte Partnerschaft eingeführt hatte, beschlossen sie, diese Möglichkeit zu nutzen. «Da ein Traugottesdienst heterosexuellen Paaren vorbehalten war, wollten wir uns immerhin segnen lassen», erläutert Folloni. «Wir baten einen befreundeten katholischen Pastoralassistenten, den Segnungsgottesdienst zu halten. Die Zürcher Predigerkirche war ein würdiger Rahmen.»
Dritte Abstimmung
Als das Gesetz 2005 auf nationaler Ebene angenommen wurde, mussten sich Kaderli und Folloni erneut eintragen lassen. Während sie sich bei den ersten zwei Volksabstimmungen an vorderster Front engagiert hatten, lassen sie nun der jüngeren Generation den Vortritt. «Wir werden jedoch die Menschen auf dem Marktplatz in Zürich-Oerlikon ansprechen und von dieser weitgehenden Gleichberechtigung, die fair ist und niemandem schadet, zu überzeugen versuchen. Der Slogan ‹Es ist genug Ehe für alle da› trifft den Nagel auf den Kopf!»
Text | Foto: Reinhold Hönle, Journalist BR, Baden – Kirchenbote SG, September 2021
«Gottes Liebe ist viel umfassender»