Gottesdienst in Schneeboots

min
22.03.2017
Im Austausch gegen einen Gottesdienst können reformierte Pfarrer in Zermatt günstig eine Ferienwohnung mieten. Die Zürcherin Nathalie Dürmüller hat es ausprobiert – und ist auf ein Dorf gestossen, in dem die Uhren etwas anders ticken.

Spektakuläres Alpenpanorama, verschneite Chalets, mondänes Flair: Für viele Menschen ist Zermatt so etwas wie der Sehnsuchtsort schlechthin. Zwar würde ich selbst nicht ganz so weit gehen, denn in meinem persönlichen Paradies ist es mindestens 30 Grad wärmer als in dem Walliser Bergdorf. Aber die Vorstellung von günstigen – und das will in Zermatt wirklich etwas heissen – Ski-Ferien liess auch mich nicht kalt. Möglich machen sollte es ein Projekt der Kirchgemeinde Visp: Wer am Sonntag einen Gottesdienst hält, kann dafür eine Woche lang günstig eine Ferienwohnung mieten. Das Angebot ist bei den Pfarrern aus dem Unterland äusserst beliebt, wie ich schnell merkte: Ein freies Datum zu finden, war gar nicht so einfach. Auch die Recherchen vorab gestalteten sich kompliziert: Die Homepage der Kirchgemeinde finden nur Eingeweihte und die Fotos der Ferienwohnung nur, wer beharrlich sucht. Das liess mich schon erahnen, dass die Uhren in der Walliser Kirchgemeinde wohl etwas anders tickten.

Gewappnet gegen Eis und Schnee
Nach Zermatt reist man am besten mit dem Zug. Zugang zum Dorf gibt es nur per Matterhorn-Gotthard-Bahn, die dem Gast-Pfarrer zudem ein Gratisticket offeriert. Im Zug zu reisen bedeutet aber, nur ein halbes Gepäckstück pro Familienmitglied mitzunehmen. «Aufs Nötigste reduzieren ist eine heilsame Übung», sagte ich mir und verstaute den Talar und die Gottesdienstschuhe wieder im Schrank. Die Zermatter würden mir die Schneeboots im Gottesdienst verzeihen müssen. Zuoberst in den Koffer kam der schwarze Ordner, darin die Predigt mit dem Titel «Führe uns aus der Arktis, Mose», nach einem Gedicht von Rose Ausländer. Kurz: Ich war bereit für eine Woche Eis und Schnee.

Chagall und Kajütenbett
Und nun bin ich also hier, zusammen mit meiner ganzen Familie. Per Zahlencode verschaffen wir uns Zugang zum Schlüssel für die Dienstwohnung. In ihrer reformierten Schlichtheit versprüht sie Charme, und vom Balkon aus kann man sogar das Matterhorn sehen. Das Büchergestell voll mit Liturgiebänden und Bibeln und die Poster von Chagall-Bildern an den Wänden lassen erkennen, dass es sich um eine Pfarrwohnung handelt. Das Kinderzimmer erinnert mit seinem Kajütenbett an eine Jugendherberge, das Elternschlafzimmer ist geräumig und hell. Der modernste Raum der Wohnung ist die bestens eingerichtete Küche. An der Pinnwand beim Eingang stosse ich auf einige Zettel mit nützlichen Informationen. Ein Satz bereitet mir Sorgen: «Bei seelsorgerlichen Notfällen wenden Sie sich bitte an den diensthabenden Kurpastoren» – und das bin in dieser Woche ja ich selbst. Was würde da wohl auf mich zukommen?

Allein im Gottesdienst
Auch die Wettervorhersage ist nicht gerade erbaulich: Der einzig wirklich schöne Tag soll der Sonntag sein, und dann halte ich Gottesdienst im Kirchgemeindehaus. Als ich mich dann bei strahlendem Sonnenschein auf den Weg mache, kommen mir scharenweise mit Skiern und Stöcken bewaffnete Touristen in teuren Sporttenues entgegen. Alle mit dem einen Ziel: Ab auf die Piste. Kein einziger von ihnen verirrt sich ins Kirchgemeindehaus. Nicht einmal meine eigenen Familienmitglieder wollen mir bei diesem Wetter Gesellschaft leisten. Das hat man gerne: Zuerst grosse Versprechungen machen und dann bei der erstbesten Gelegenheit einknicken!

So sitze ich also da und beginne zum ersten Mal das Ganze zu hinterfragen. Ist es richtig, in den Ferien eine Stellvertretung zu übernehmen? Und warum habe ich mir überhaupt so viel Mühe gemacht, ein passendes Gottesdienst-Thema ausfindig zu machen? Klar ist es eine Predigt, die ich schon einmal gehalten habe – das wird ausdrücklich so empfohlen –, aber trotzdem habe ich Zeit und Energie in die Vorbereitungen gesteckt. Und warum gibt es überhaupt ein solches Angebot, wenn dann doch niemand davon Gebrauch macht? Wie ich später erfahren habe, war auch am Wochenende zuvor kein einziger Besucher in den Gottesdienst gekommen.

Zielpublikum Touristen
Schliesslich taucht kurz vor zehn Uhr Herr Kradolfer auf, der das Kurpastorat in Zermatt managt. Er giesst zunächst einmal die Zimmerpflanzen, die im Kirchenraum verteilt herumstehen. Zum Glück insistiert er nicht, dass ich den Gottesdienst für ihn alleine abhalte. Stattdessen schlägt er vor, im Viersternehotel Julen einen Kaffee zu trinken. Eine gute Gelegenheit, mehr darüber zu erfahren, was es heisst, Diaspora-Gemeinde in einem Walliser Skiort zu sein. Beim Gespräch wird mir klar, dass die Gottesdienste, die von den Stellvertretern durchgeführt werden, vor allem für Touristen gedacht sind. Die einheimischen Reformierten orientieren sich für religiöse Anlässe an der Kirchgemeinde Visp, auch der Konfirmandenunterricht findet dort statt.

Fremd in der neuen Heimat
Laut Kradolfer sind alle Reformierten in Zermatt Zugezogene. Auf meine Frage, ob sie hier integriert sind, stutzt er kurz und antwortet: «Integriert vielleicht nicht, aber akzeptiert.» Er selber lebt schon sehr lange in Zermatt, den Walliserdialekt mag er jedoch nicht nachahmen: «Das kommt nicht gut an,» sagt er. Man bleibe auch nach Jahren in Zermatt ein «Grüezini». Jetzt dämmert mir auch, warum in der Pfarrwohnung ein Buch mit dem Titel «Religiöse Kindererziehung in der Mischehe» steht. Ein Überbleibsel aus den 50er-Jahren, so scheint es.

Doch vielleicht ist in Zermatt in dieser Hinsicht einfach die Zeit stehen geblieben. Die Reformierten hier kommen mir vor wie Fremde in ihrer eigenen Heimat. Noch mehr gilt das natürlich für eine reformierte Gastpfarrerin. Sie ist aus der Sicht der Einheimischen wohl so etwas wie ein schillernder Paradiesvogel von den Bahamas, der versucht bei Minustemperaturen Fuss zu fassen. Ein Vorteil hat das allerdings durchaus: Sicherlich würde niemand in einer seelsorgerlichen Notlage den Rat der anwesenden Kurpastorin suchen. Und so kann auch ich getrost noch die restlichen Ferien geniessen.

Weitere Informationen
Kontakt: Pfarrer Tillmann Luther, Visp, tillmannluther@hotmail.com

Nathalie Dürmüller / ref.ch / 22. März 2017

Dieser Artikel stammt aus der Online-Kooperation von «reformiert.», «Interkantonaler Kirchenbote» und «ref.ch».

Unsere Empfehlungen

Das Ende des Abendmahlstreits

Das Ende des Abendmahlstreits

1973 schrieben die protestantischen Kirchen Europas im Kanton Baselland Kirchengeschichte. Sie beschlossen Kirchengemeinschaft. Dies vereinfacht seither vieles zwischen den Reformierten, Lutheranern und Unierten. Manche Themen sind nach wie vor umstritten.