Pragmatischer Umgang

Gotteshaus, Gassenküche, Pferdestall

von Philipp Kamm
min
15.01.2024
Kirchen und Klöster umzunutzen, ist keine neue Idee. Weil die Reforma­toren Gotteshäuser nicht mehr als ­heilige Orte betrachteten, erlebten diverse Kirchenbauten in der Schweiz seit dem 16. Jahrhundert erstaunlich ­wechselvolle Kapitel in ihrer Nutzungsgeschichte.

Faktisch waren Kirchen schon im Mittelalter Multifunktionsbauten mit Treffpunktcharak­ter – und wenig andĂ€chtiger AtmosphĂ€re: In den meist banklosen RĂ€umen schliefen Pilger und stöhnten Kranke, hier wurde gegessen, gehandelt, geschĂ€kert, gespielt, geurteilt, getratscht.

Heiliger Raum 


Trotzdem waren und sind Kirchen nach katho­lischem VerstĂ€ndnis von der übrigen Welt ab­gesonderte heilige RĂ€ume: ein Abbild der leben­digen Kirche der GlĂ€ubigen mit dem Altar im Mittelpunkt, wo in der Eucharistiefeier Christus prĂ€sent ist. Mit der feierlichen Weihe durch den Bischof wird ein Kirchenbau weltlichen Zwecken auf Dauer entzogen – und seine Erlaubnis ist nötig, bevor eine katholische Kirche formell entweiht und umgenutzt werden kann.


 nĂŒtzliches Haus

Die Reformatoren lehnten diese Trennung in heilige und weltliche SphĂ€ren ab. Für sie waren Kirchen schlicht Versammlungsorte für Gebet und Gottesdienst. «Und wo diese Ursache aufhört, sollte man dieselben Kirchen abbrechen, wie man es mit allen anderen HĂ€usern tut, wenn sie nicht mehr nützlich sind», schrieb Luther. Als Steinbrüche endeten aber nur wenige Schweizer Klöster und Kirchen, als wĂ€hrend der Reformation Ordensgemeinschaften und Stifte aufgehoben wurden und ihr Besitz an den Staat ging. Doch nicht PietĂ€t, geschweige denn denkmalpflegerische Überlegungen, sondern karitative oder wirtschaftliche Zwecke dominierten das weitere Schicksal der Bauten.

GassenkĂŒchen und Schulen 


Durch die Aufhebung geistlicher Gemeinschaften und Stifte verfügten die staatlichen Obrigkeiten über immense zusĂ€tzliche Güter. Reformatoren wie Zwingli drĂ€ngten darauf, diesen Reichtum zur Verkündigung des göttlichen Worts, für ArmutsbekĂ€mpfung und Bildung einzusetzen. So wurden etwa RĂ€umlichkeiten des Predigerklosters in Zürich zu Spital, Alters- und Waisenheim umgewandelt, dazu entstand hier wie im Augustinerkloster ein «Mushafen», ein VorlĂ€ufer moderner Gassenküchen. Aus dem Katharinenkloster in St. Gallen wiederum wurde noch im 16. Jahrhundert eine höhere Knabenschule, 1615 fand hier die Bibliothek Vadiana ihren Platz, Grundstock der spĂ€teren Kantonsbibliothek.


 Lager und PferdestÀlle 


Das Kloster St. Gallen hingegen musste wenige Jahre nach der Aufhebung wieder dem Abt überlassen werden. Heute ist kaum vorstellbar, dass der Klosterkirche womöglich das Schicksal anderer GotteshĂ€user geblüht hĂ€tte: Um die hohen Kirchenschiffe besser ausnutzen zu können, wurden hĂ€ufig Zwischenböden eingezogen. Besonders viele wurden aufgrund ihrer Grösse zu Lagern und Speichern umfunktioniert (z. B. Heiliggeistkirche in Bern als Kornschopf oder die Basler Barfüsserkirche als Waren- und Salz­lager), in manchen wurden Weinpressen eingerichtet, andere wurden zeitweilig als Pferdestall, Kaserne oder MünzprĂ€gestĂ€tte benutzt.


 Marktplatz und Gotteshaus

So verzeichneten manche Kirchen eine abwechslungsreiche Geschichte: Die Wasserkirche in Zürich etwa (wo der Legende nach die Stadtheiligen Felix und Regula enthauptet wurden) stand nach der Reformation 1524 zunĂ€chst leer, diente anschliessend als Vorratslager für Bauern. Die 1581 erfolgte Unterteilung in drei Etagen erlaubte es, die unterste Ebene als Markthalle zu nutzen, auf den oberen Stockwerken mieteten HĂ€ndler Lagerabteile. Schon 50 Jahre spĂ€ter folgte eine erneute Umnutzung samt Einbau von Galerien: Es entstand die erste stĂ€dtische Bibliothek inklusive einer Wunderkammer (ein Museum). Ab den 1940ern schliesslich wurde das GebĂ€ude wieder als Kirche genutzt – zum ersten Mal seit 400 Jahren. Seit 2018 haben aber keine Gottesdienste mehr stattgefunden, die Kirche wird für Konzerte, Ausstellungen und private AnlĂ€sse genutzt.

Zweierlei Verweltlichung

Das zweifache Ende der Wasserkirche als Gotteshaus zeigt zwei unterschiedliche Prozesse, die zu Umnutzungen von Kirchen führen: Durch SĂ€kularisation wurden geistliche Institutionen durch weltliche Obrigkeiten aufgehoben und enteignet. Dies geschah in der Schweiz nicht nur wĂ€hrend der Reformation, sondern auch ab 1770 durch AufklĂ€rung, Revolution und Liberalismus. Der junge Kanton St. Gallen hob z.B. in dieser Phase die Klöster St. Gallen, SchĂ€nis und PfĂ€fers auf. Dagegen bezeichnet man die individuelle und gesellschaftliche Abwendung vom Kirchlich-Religiösen als SĂ€kularisierung. Sie ist es, die heute Kirchgemeinden in ganz Europa zwingt, wegen sinkender Mitgliederzahlen und Ressourcen neue Nutzungen für ihre Kirchen zu finden. In welchen GebĂ€uden wird wohl in 400 Jahren noch, neu oder wieder Gottesdienst gefeiert?

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