«Hatte die Grenzöffnung verschlafen»

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19.09.2019
Am 9. November vor 30 Jahren fiel die Berliner Mauer. Kaum einer hatte das für möglich gehalten. Hendrik de Haas, heute Pfarrer in Hüttlingen (TG), erinnert sich an die damalige Zeit.

Dresden 1977
«Und willst du nicht mein Bruder sein, so schlag' ich dir den Schädel ein!» Betretenes Schweigen. Verstohlene Blicke treffen sich. Die Propaganda wirkt. Kapitalisten sind skrupellos und böse! Wir sind die Guten. Die Bösen können uns nichts tun. «Mein Onkel ist nicht böse!», platzt Liane in das Schweigen. Lachen füllt den Klassenraum. Einige Buben springen von ihren Stühlen. Die Kinder der 5. Klasse sind erleichtert. Einer kichert: «Die erzählt von zu Hause!» Manche schütteln den Kopf. Versteht sie nicht, was hier passiert? Der Lehrer propagiert. Das ist alles. Sich darüber aufzuregen, nützt nichts, heisst es zu Hause.

Herr Zehrtling freut sich über Lianes Protest. Mit ihrer Steilvorlage ist er im Thema: «Das mag sein, Liane. Wir haben gelernt: ein Kapitalist ist nicht dumm. Ohne die Arbeitskraft seiner Arbeiter verdient er kein Geld. Doch die Arbeiter bekommen ihren gerechten Lohn erst dann, wenn sie stärker sind, als der Kapitalist, und das zeigen.»

Jetzt ist Gelegenheit für die Schüler Fleisspunkte zu sammeln. Auswendig gelernte Antworten werden vom Lehrer reihum abgerufen. Das revolutionäre Potenzial der Arbeiterklasse rollt wie an einer Perlenschnur aufgereiht durch den Raum. Das Stundenziel ist erreicht, der Klassenstandpunkt erfolgreich und nachweisbar vermittelt. Der Alltag ist politisch. Alles, was ich tue oder leider vergessen habe, hat Folgen für den Weltfrieden. Wir sind die Guten! Ohne die tapferen Völker Korea und Vietnam, und ohne uns hätten die Kapitalisten den Dritten Weltkrieg schon begonnen. Doch sie gewinnen nicht, «weil wir da sind. Und wir passen auf, dass euch nichts Böses geschieht. Dafür müsst ihr fleissig lernen. In Zukunft sorgt ihr dafür, dass alle Menschen, ja, auch Lianes Onkel im Westen, eines Tages so glücklich leben, wie wir!» Wie alle Kinder freuen wir uns, auf der Seite der Guten zu sein. Was wir denken, behält jede und jeder für sich. Liane lernt das auch noch.

Leipzig 1987
Freunde treffen. Geburtstag feiern. Alle wohnen noch bei ihren Eltern. Wer heiratet, erhält vom Wohnungsamt der Kommune eine Wohnung zugewiesen. Junge Familien werden unterstützt. Wer nach einem Jahr Ehe sich scheiden lässt, bekommt wieder eine Wohnung. So ist die Scheidungsrate in der DDR die höchste der Welt. In meinem Freundeskreis will niemand heiraten und wir haben keinen Raum für Partys. Wir könnten in ein verlassenes Haus einsteigen und dort feiern. Bei kalter Witterung eher ungemütlich. Kirchgemeinden, die wir kennen, geben Räume gratis auch an uns für Partys ab. Einen halben Tag lang wird alles vorbereitet, dekoriert, Musik- und Lichtanlage aufgebaut. Alles da! Ab zum Bahnhof, Gäste abholen. Auf dem Weg zurück, holt einer Kerzen aus seinem Parka, verteilt sie an uns und zündet sie an. Wir gehen fröhlich weiter. Keine hundert Meter später stoppt ein Lada schwungvoll neben uns. Drei Mann Besatzung springen heraus:

«Die Kerzen aus! Her damit!», brüllt einer wild. «Wer ist der Veranstalter?»
«Wieso Veranstalter?»
«Das ist eine unangemeldete Demonstration! Wer hat das veranlasst?»
«Na, wir alle! Wir feiern Geburtstag.»
«Wer hat Geburtstag? Du kommst mit! Und Du auch!» Willkürlich wird noch einer rausgegriffen und weg sind sie.

Die Party dümpelt vor sich hin. Nach Mitternacht grosse Freude: Beide sind zurück und erzählen. Dass mit den Kerzen zum Geburtstag kannte der Stasi-Offizier. Im Protokoll steht seine Frage: «Wo war die Torte?»

Freitag, 10. November 1989, Schwedt/Oder
Als Bausoldat (Kriegsdienstverweigerer, die auf Baustellen arbeiten) der NVA (Nationale Volksarmee) sind ein Kamerad und ich beim Gerüstbau im VEB PCK (Volkseigener Betrieb Petrolchemisches Kombinat) Schwedt eingesetzt. 4.30 Uhr wecken. 5.00 Uhr Frühstück. 5.30 Uhr Abfahrt der Kompanie mit dem Werksbus ins Petrolchemische Kombinat. 6.00 Uhr Schichtbeginn. Die Brigade der Arbeiter im Gerüstbau hat uns beiden einen gut geheizten Bauwagen hingestellt für die Pausen. Wir sollen nicht ihren Pausenraum mit ihnen teilen, zu privat. Heute ist niemand da. Spontan gönnt man sich ein verlängertes Wochenende in Berlin-West, wie die andere Hälfte der Stadt bei uns offiziell genannt wird.


Im Bus hörte ich von Arbeitern, die Grenze sei offen. Ich hatte die Grenzöffnung verschlafen. Wohl ein Glück. Hätte man uns mit Alarm geweckt, wäre es wohl einer Katastrophe gleich gekommen. Keinen Monat zuvor hatten viele Leute grosse Angst: Was passiert, wenn einer von denen da oben die Nerven verliert? In Dresden war die Lage kritisch, als Züge mit Flüchtlingen aus der Prager Botschaft kommend nicht direkt nach Bayern, sondern durch die DDR in den Westen rollten. Später war es vielerorts immer wieder kritisch. Überall erschallt der Ruf: «Keine Gewalt!» Die alte Botschaft aus der Bergpredigt wirkt. Nichts passiert. Kein Befehl kommt aus Berlin. Wer nicht demonstriert, versteht die Welt nicht mehr. Unser Kompaniechef, zum Major degradiert, muss sich mit unserer Kompanie «bewähren», fragt uns unter Tränen: «Was wird aus meiner Tochter? Sie ist behindert!» Ratlos schweigen wir. Was soll schon aus ihr werden? Dann schnappt er nach Luft und es bricht aus ihm heraus: «Die Konterrevolution rollt!» Der Mann hat Angst. Die Propaganda der Revolution prägt seine Sicht auf die Wirklichkeit. Mit der reinen Lehre des dialektischen Materialismus erklärt er sich die Welt. Revolutionäre, die ihre Revolution an die Konterrevolutionäre verlieren, werden aufgeknüpft, gelyncht wie nach dem Ersten Weltkrieg. Das glaubt er. Und wir haben viel Zeit und nichts anderes zu tun und erzählen ihm, was wir gesehen und erlebt haben. Wohl zum ersten Mal auch einem wie ihm, was wir darüber denken: Was passiert zu Hause, bei den Friedensgebeten in den Kirchen, auf den Strassen und Plätzen. Alle sechs Wochen haben wir zwei Tage Urlaub und montags, wenn die Demonstrationen laufen, sollen wir in den Kasernen sein. Doch von uns hört er Neues. Die Angst ist weg. Das ist für mich das Grösste. Die Lage ist unübersichtlich. «Und wenn morgen die Mauer wieder zu ist?» Zivile Klamotten waren wie der eigene PW für Soldaten verboten. Natürlich hatte jeder von uns ein Versteck dafür. Der eine bei neuen Freunden im Ort oder im Pfarrhaus, der andere in einer Kuhle im Wald. Viele von uns machten sich an diesem Freitag in Zivil und in Fahrgemeinschaften aus dem Staub, auch ohne Urlaubsschein. Was in der Kaserne zurückbleiben musste, schickten wir später an die Eltern.


Manche aus unserer Kompanie waren im Gefängnis gewesen. Sie wollten in den Westen. Doch die DDR musste zeigen, wer das Sagen hat und liess sie vorher den regulären Militärdienst absolvieren. Heute war ihr Tag. Manche unter uns waren Spitzel. Oft hat sie ihr Verhalten verraten. Niemand kann 18 Monate Tag und Nacht mit fünf anderen auf 20 Quadratmeter wohnen und seine Identität verbergen. Unser Mitleid war ihnen sicher. So konnten sie bleiben bis ihre Dienstzeit beendet war und galten ihren Vorgesetzten nicht als Versager.


→ Lesen Sie hier mehr zum Thema «30 Jahre Mauerfall»


(Pfr. Hendrik de Haas, 20. September 2019)

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