Fokus Hildegard von Bingen

«Hildegard hat damals schon erkannt, was wir heute wissen»

von Noemi Harnickell
min
30.10.2023
Maja Dal Cero ist Ethnobotanikerin und befasst sich unter anderem mit den Heilkräften von Pflanzen in Klostergärten. Im Interview erklärt sie, warum Hildegard von Bingen mehr ist als Esoterik und welche Pflanzen bis heute guttun.

Frau Dal Cero, was ist aus Ihrer Sicht so besonders an der Heilpflanzenkunde der Hildegard von Bingen?

Das Herausragende an Hildegard von Bingen ist das Ganzheitliche in ihrer Heilkunst. Jede ihrer Schriften behandelt ein irdisches Element. Überliefert sind das Buch der Pflanzen, das Buch der Elemente, der Metalle, der Steine … Dieses Eingebundensein in die Natur macht sie ein Stück weit einzigartig. Sie erkannte, dass Körper und Geist miteinander verbunden sind, und legte einen besonderen Wert auf die Seelengesundheit. Ein kranker Mensch ist in ihren Worten «aus dem Kosmos gefallen» und muss wieder ins Gleichgewicht gebracht werden, damit er genesen kann.

Das klingt esoterisch.

Wir müssen ihre Werke in den Kontext der modernen Medizin stellen. Die «Hildegard-Medizin» ist das, was Ärzte über die vergangenen Jahrhunderte aus ihren Schriften gemacht haben. Ihre Rezepte und Ratschläge wurden immer wieder neu interpretiert – und werden es noch heute. Nur so machen sie auch Sinn.

Wo Sie von «Sinn» reden: Ist denn Hildegard von Bingens Medizin nach heutigen Massstäben noch sinnvoll?

Wenn sie im richtigen Verständnis angewendet wird, dann absolut! Man darf von Heilkräutern nicht erwarten, dass sie allein schwere Krankheiten heilen, aber man kann sie begleitend einsetzen. Die Klostermedizin ist ein Teil der heutigen vielfältigen Medizin und der therapeutischen Landschaft. Keine Disziplin steht im Vakuum da, es ist immer ein Zusammenspiel verschiedener Herangehensweisen. Und das hat auch Hildegard von Bingen erkannt.

Was meinen Sie mit dem «richtigen Verständnis»?

Hildegard von Bingen schrieb oft sehr umgangssprachlich. Es ist also gar nicht immer so einfach, zu verstehen, wie sie die Dinge meinte. Und dann müssen wir uns auch eingestehen: Wir leben eben nicht im Mittelalter. Hildegard rührte Salben mit Schmalz an – das macht man heute schon lange nicht mehr so. Deswegen brauchen wir die Interpretation. Wir müssen ihre Ratschläge in die heutige Zeit übersetzen.

Petersilienwein erzielt natürlich nicht die gleiche Wirkung wie ein herkömmliches Arzneimittel. Es geht um das Gesamtkonzept.

Trotzdem gibt es unzählige Produkte, die mit Hildegard von Bingen werben. Was halten Sie davon?

Petersilienwein erzielt natürlich nicht die gleiche Wirkung wie ein herkömmliches Arzneimittel. Es geht um das Gesamtkonzept. Es stimmt aber: Was kommerzialisiert wird, müssen wir kritisch betrachten.

Gibt es Pflanzen, von denen heute wissenschaftlich bestätigt ist, dass sie wirken?

Es gibt viele Studien, die zeigen, dass die medizinischen Ratschläge von Hildegard von Bingen mehr sind als reine Zufallstreffer. Ihre Schriften sind absolut vernünftig und rational und vollkommen im Rahmen der damaligen Heilkunst. Ein gutes Beispiel ist der Wermut, der ätherisches Öl und verschiedene Bitterstoffe enthält. Hildegard von Bingen schrieb darüber: «Der Wermuth ist sehr warm und sehr kräftig und ist der wichtigste Meister gegen alle Erschöpfung.» Da sehen wir, was ich vorhin mit der Sprache meinte: Wahrscheinlich bezog sich Hildegard auf den Begriff des «kalten Magens». So beschrieb man im Mittelalter eine schlechte Verdauung. Der Wermut aber wirke «warm». Hildegard hat also damals schon erkannt, was wir heute wissen: dass Wermut bei Verdauungsproblemen hilft. Bitterstoffe, auch das ist erwiesen, sind ausserdem zentral in der Unterstützung bei Erschöpfungssymptomen.

Würden Sie sagen, dass Hildegard von Bingen eine Schlüsselfigur der klassischen Klostermedizin ist?

Das wird in der Populärwissenschaft oft so dargestellt. Es ist aber wahrscheinlich, dass sie historisch keine Leitfigur war. Ihre Schriften waren zwar in Klosterbibliotheken verbreitet, aber da gab es andere Werke, die höhere Auflagen hatten. Wichtig ist auch, dass ihre medizinischen Schriften eigentlich nur ein marginaler Teil ihres Gesamtwerks sind.

Im Gegensatz zu anderen Autoren ihrer Zeit hat sie aber nicht nur über Pflanzen geschrieben, die etwa im Mittelmeerraum wuchsen, sondern hat auch solche aus dem arabischen Raum in ihre Werke mit eingebunden. Das hebt sie durchaus von ihren Zeitgenossen ab.

 

Maja Dal Cero

Maja Dal Cero ist freischaffende Ethnobotanikerin aus Schaffhausen. Eines der wichtigen Anliegen der Ethnobotanik ist die Dokumentation von lokalem Heilpflanzenwissen. Während ihrer Unterrichts- und Forschungstätigkeiten veröffentlichte Maja Dal zahlreiche Fachartikel und publizierte mehrere Bücher.

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