«Ich glaube an die Auferstehung»

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24.08.2017
Seit Jahrzehnten schreibt Jean Ziegler gegen Hunger, Armut und Ungerechtigkeit an. Jetzt hat er mit «Der schmale Grat der Hoffnung» ein weitgehend autobiografisches Buch geschrieben. Eine Gelegenheit, um mit Ziegler über Gott und die Welt zu reden.

Herr Ziegler, in Ihrem neuen Buch «Der schmale Grat der Hoffnung» zitieren Sie Jean-Paul Sartre, der sagte: «Jeder Tod ist ein Mord.»
Wie recht er hat! Und doch: Es ist der Tod, der unserem Leben Sinn verleiht.

Weil er uns an die Endlichkeit erinnert?
Ja. Denn gäbe es keine Zeit, hätten unsere Handlungen keinen Sinn. Es würde überhaupt keine Rolle spielen, was wir tun und wann und wieso. Erst die Endlichkeit macht uns zu Wesen mit Verantwortung.

Und doch fürchten sich viele vor dem Tod. Mir etwa graut vor der Vorstellung, ewig lange tot zu sein.
Wir werden nicht ewig tot sein, denn wir werden auferstehen. Zwar ist unser Körper auf dem Weg zum Tod. Im Alter verlangsamt sich die Zellerneuerung eines Menschen und irgendwann ist dann halt Schluss. Aber das ist nur die eine Seite der Geschichte. Neben dem Körper gibt es noch das Bewusstsein, und das ist für die Ewigkeit bestimmt.

Können Sie das näher erklären?
Wir Menschen können über unsere Endlichkeit hinausdenken, wir tragen die Idee der Ewigkeit in uns. Sicher, damit wir in unseren Gedanken, Worten und Handlungen Gestalt annehmen können, braucht unser Bewusstsein ein physiologisches Substrat, den Körper. Fällt dieses Substrat weg, kann sich das Bewusstsein nicht mehr so konkretisieren wie bis anhin. Ein natürliches Ende gibt es für das Bewusstsein aber nicht, denn es ist kumulativ. Dennoch wird es durch den Tod gewaltsam unterbrochen, was ein Skandal ist. Deshalb glaube ich an die Auferstehung.

Sie meinen das in einem religiösen Sinne?
Ich bin überzeugt, dass unser Bewusstsein nach dem Tod weiterlebt. Und dass wir als absolut singuläre Personen in einer neuen Form erscheinen.

Ist der Sozialist Jean Ziegler ein gläubiger Mensch?
Victor Hugo sagte: «Ich hasse alle Kirchen, ich liebe die Menschen, ich glaube an Gott.» Dass es einen Gott gibt, scheint mir völlig evident.

Welchen Beleg haben Sie dafür?
Die Liebe, die wir in uns tragen. Lieben ist ja kein Willensakt, vielmehr werden wir von der Liebe erfasst. Sie muss von irgendwoher kommen, anders ist das gar nicht zu erklären.

Und was ist mit dem Bösen?
Auch das Böse muss eine autonome Quelle haben, also etwas, das ausserhalb des Menschen liegt. Ich kann mir nicht vorstellen, dass all die Folterknechte dieser Welt eine menschliche Perversion sind. Sie sind vom Bösen beherrscht.

Das klingt jetzt so, als könnten diese Typen nichts dafür.
Nein, nein, im Gegenteil. Wie Sartre sagt: «Der Mensch ist das, wozu er sich macht.» Wir wurden ja nicht als Roboter erschaffen, sondern als Wesen mit Freiheit. Und diese Freiheit ermöglicht uns nicht bloss zwischen Gut und Böse zu wählen, sie bringt auch die Verantwortung mit sich, das Richtige zu tun.

Wenn es um die Schurken geht, die unsere Welt regieren, zeichnen Sie in Ihrem Buch ein düsteres Bild.
Wir leben in einer kannibalischen Weltordnung, diktiert von Finanzoligarchen. Die 85 reichsten Milliardäre besitzen so viel wie die 4,5 Milliarden ärmsten Menschen, das müssen Sie sich einmal vorstellen. Die 500 grössten Konzerne der Welt beherrschen fast 53 Prozent des jährlichen Weltsozialprodukts. Diese Oligarchen haben eine Macht, wie kein König, kein Kaiser und kein Papst sie je hatte.

Apropos Papst. In seinem Buch «Für eine Wirtschaft, die nicht tötet» fordert Papst Franziskus neue Strukturen, die niemanden mehr vom «guten Leben» ausschliessen.
Dieser Papst ist ein Geschenk des Heiligen Geistes! Er hat absolut recht, wenn er sagt, es gäbe jenseits der Unterdrückten und Ausgebeuteten eine neue Kategorie von Menschen – jene, die vollständig von der Gesellschaft ausgeschlossen sind. Sie machen eine Milliarde Menschen aus und werden behandelt wie Abfall. Das Wort «Abfall» benutzt der Papst selbst.

Kritiker sagen, die offizielle Kirche tue zu wenig, um gegen die Unterdrückungsstrukturen anzukämpfen.
In gewisser Hinsicht zementiert sie sogar die kannibalische Weltordnung, indem sie das System nicht hinterfragt und sich von jeder politischen Aktion fernhält. Den Kampf gegen die Armut reduziert sie auf einen einzigen Akt: die Spende von Almosen. Es geht jedoch um soziale Gerechtigkeit und Strukturreformen. Das Evangelium ist der revolutionärste Text, den es überhaupt gibt. Nehmen wir Matthäus, Kapitel 25. Christus sprach: «Denn ich bin hungrig gewesen und ihr habt mir zu essen gegeben . . .» Und die Jünger sagten: «Herr, wann haben wir dich hungrig gesehen und haben dir zu essen gegeben?» Christus erwiderte ihnen: «Was ihr getan habt einem von diesen meinen geringsten Brüdern, das habt ihr mir getan.» Was für eine Aussage! Darin steckt das totale Solidaritätsprinzip. Auch die Bergpredigt ist ein revolutionärer Text, viel deutlicher noch und besser als das kommunistische Manifest.

Das kommunistische Manifest nach dem Matthäusevangelium und der Bergpredigt auf Platz drei der revolutionärsten Texte? Nicht viele Christen würden das so sehen.
Als Lenin 1903 in Genf die städtische Bibliothek besuchte, kritzelte er im Essay «Das Leben Jesu» des Religionswissenschafters Ernest Renan neben der Passage «Christus ist in die Welt gekommen, um Reichtum und Macht zu zerstören, nicht, um sich ihrer zu bemächtigen» die Worte hin: «Hier ist der wahrhaftige Sozialismus!»

Sind die Christen heutzutage denn besonders gefordert?
Ihre Aufgabe ist der Kampf gegen die kannibalische Weltordnung, das ist die Vorsehung. Der französische Schriftsteller Georges Bernanos hatte recht: «Gott hat keine anderen Hände als die unseren.» Entweder ändern wir diese absurde Weltordnung, oder sonst tut es niemand.

Ihr Buch heisst «Der schmale Grat der Hoffnung». Hält man sich die politischen Entwicklungen vor Augen, gibt es wenig Anlass zur Hoffnung.
Sie haben recht. Wir sind in der Endphase des Klassenkampfes. Und da kann alles schiefgehen wie zum Beispiel, dass Faschisten, Rassisten und andere Halunken an Zulauf gewinnen. Trotzdem bin ich zuversichtlich.

Was macht Sie so sicher?
Das einzig Gute an der kannibalischen Weltordnung ist ja, dass sie ein neues historisches Subjekt erschaffen hat, nämlich die planetarische Zivilgesellschaft. Sie kann es richten. Es handelt sich dabei um eine rätselhafte Bruderschaft der Nacht: unzählige soziale Bewegungen, Gewerkschaften, NGOs sowie Widerstandskämpfer und -kämpferinnen. Sie besitzen eine unbändige, kreative Kraft. Diese Zivilgesellschaft will nicht weiter in einer Welt leben, in der alle fünf Sekunden ein Kind unter zehn Jahren durch Hunger stirbt oder durch die unmittelbaren Folgen des Hungers ermordet wird. Sie folgt vielmehr dem moralischen Imperativ von Immanuel Kant, den wir alle in uns tragen: «Die Unmenschlichkeit, die einem anderen angetan wird, zerstört die Menschlichkeit in mir.»

Klaus Petrus, Kirchenbote, 24. August 2017

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