«Ich hab ja nix zu verbergen»
«Nacktheit» in einem christlichen Magazin? Da kann man nur scheitern. Plädiert man pro, schäumen die einen, sagt man contra, flippt der Rest aus. Zeit also für eine hüllenlose Analyse.
Plotin warf den Christen vor, sie verlotterten die Sitten.
Das Christentum kennt seinem Wesen nach einen eher lockeren Umgang mit körperlicher Blösse. Der grosse Franz von Assisi gab all seine schicken Kleider dem Vater, als er dem Luxusleben entsagte. Dann ging er davon, nackt, um seinen spirituellen Weg zu suchen. Jesaja lief nackt durch Jerusalem, drei Jahre, um seine Botschaft zu verstärken, «mit entblösstem Gesäss», wie es nüchtern heisst. Jesus liegt «nackt und bloss im Krippelein», erzählt das Weihnachtslied. Und am Ende würfeln die Landknechte um seine Kleider. Entblösst kommt er und entblösst geht er, wie Hiob schon sagte: «Nackt kam ich hervor aus dem Schoss meiner Mutter, nackt kehre ich dahin zurück.» Nackt zu sein ist das Natürlichste der Welt und der nackte Mensch ist ein bedürftiges Wesen. Wer sich nackt macht, ist verletzlich. Deshalb erinnert sich Jesus so dankbar seiner Freundinnen und Freunde: «Ich war nackt und ihr habt mich bekleidet.» Ihr habt mir Würde gegeben!
Mär von der Leibfeindlichkeit
Wo aber bleibt denn da die Leibfeindlichkeit des Christentums, die ihm oft nachgesagt wird? Gute Frage. Sie ist eine Schimäre, eine Erfindung der Spätantike. Seinerzeit führten sich die Neuplatoniker und Stoiker als Moralapostel auf. Namentlich Plotin warf Christen vor, sie verlotterten die Sitten. Dabei käme es doch nur auf den Geist an, auf die Seele, das Eine, wie sie sagten. Der Rest sei vergänglich, wertlose Materie, ausser wenn Geist in ihr wohne.
Augustin hat dieser Schräglage Paroli geboten. Dazu griff er die Argumente seiner Gegner aber derart engagiert auf, dass sie bis heute nachwirken. So geriet die Überbetonung des Geistes ins christliche Denken und damit auch die Abwertung des Leibes.
Freiwilliger Daten-FKK
Die Gesellschaft heute braucht keine Moralapostel mehr, die über Nacktheit richten. Sie weiss schon selbst, was sie will, und pendelt folglich ziellos hin und her. In den 90ern haben sich Frauen – nicht nur in der Berner Marzili-Badi – scharenweise ihrer Oberteile entledigt, ohne dass sie ein Mann darum gebeten hätte. Heute tragen junge Männer hingegen beim gemeinsamen Duschen oft wieder ihre Badehose. So schnell können Schamempfinden und Nacktheitslust ändern. Kein Grund, zu urteilen.
Jesaja lief nackt durch Jerusalem, «mit entblösstem Gesäss», wie es nüchtern heisst.
Wahre Nacktheit liegt heute denn auch eher im Internet. Die Selbstentblössung durch Freigabe von Daten ist Volkssport, und das Entsetzen ist jeweils erheblich, wenn mit diesen intimen Informationen plötzlich Schindluder getrieben wird. Damit konnte ja nun auch gar niemand rechnen! Uiuiui. Skandal, dass Dritte aus unserer Nacktheit auch noch Nutzen ziehen!
Würde sucht Schutz
Daher scheint es dringlicher, sich über den virtuellen Sog zur Selbstentkleidung zu erregen als über ein Stückchen nackte Haut. Diese nackte Wahrheit aber ist nur schwer zu ertragen. So erfindet unsere Zeit tolle Tricks, ihr auszuweichen, des Kaisers neue Kleider. Selbst Google und Co. versprechen derweil frivol, ihre datennackten Nutzer zu schonen. Wer’s glaubt, wird selig. Wer von der Nacktheit lebt, sollte nicht noch so tun, als wolle er dabei Schutzräume bieten.
«Ich hab ja nix zu verbergen», lautet häufig der Einwand. Echt jetzt? Warum tragen wir dann Kleider und legen sie nur in unseren intimsten Momenten ab? Wahrscheinlich, weil es ein Recht gibt, nicht alles zeigen zu müssen, selbst wenn es das Natürlichste der Welt wäre. Das nennt man Selbstbestimmung. Christlich gesprochen: Würde, die Schutz sucht vor denen, die uns am liebsten die Kleider vom Leib reissen.
Text: Reinhold Meier, Psychiatrie-Seelsorger und Journalist BR | Foto: Pixabay – Kirchenbote SG, Juli-August 2021
«Ich hab ja nix zu verbergen»