1 Jahr Krieg in der Ukraine

«Ich hätte das nicht für möglich gehalten»

von Tilmann Zuber
min
01.03.2023
Seit einem Jahr herrscht Krieg in der Ukraine. Aus diesem Anlass rufen die Kirchen in der Schweiz zum Gebet auf. Rita Famos, Präsidentin der Evangelisch-reformierten Kirche der Schweiz (EKS), über die Zeitenwende, das Gebet und den Einsatz von Waffen.

Frau Famos, die Kirchen rufen Christinnen und Christen am 24. Februar zum Gebet auf? Warum?
Rita Famos: Viele Christinnen und Christen beten schon lange für die Menschen in der Ukraine und das Ende dieses unsäglichen Krieges. Einige Gemeinden seit dem Februar 2022 in regelmässigen Friedensgebeten. Gebet schafft Gemeinschaft unter den Betenden und somit das Gefühl, in aller Ohnmacht, Verzweiflung nicht allein zu sein. Zu wissen, dass an diesem Tag viele Menschen in ganz Europa mit uns das Vaterunser beten werden, hat eine unglaubliche Kraft und schafft Verbundenheit. Wir laden auch die Geflüchteten aus der Ukraine ein, mit uns zu beten, und zeigen ihnen so, dass wir im Glauben und im Handeln verbunden sind und ihre Not uns nicht kaltlässt. Und schliesslich vertrauen wir darauf, dass Gott unser Gebet hört und uns Hoffnung und Kraft schenkt.


Wo waren Sie, als der Krieg ausbrach? Was waren Ihre Gefühle?
Ich war in Wien und war schockiert. Wie ich vor drei Jahren es nie für möglich gehalten habe, dass die Pandemie nach Europa kommt, habe ich auch damals nie geglaubt, dass Russland in der Ukraine einmarschieren würde und es in Europa Krieg geben könnte. Ich begriff gerade, wie naiv und gutgläubig ich war. Ich sah, wie sich vor dem Stephansdom die erste Mahnwache formierte. Und ich spürte, wie mich die Angst beschlich, dass dieser Konflikt uns alle betreffen könnte. Ich trat sofort in Kontakt mit der Geschäftsstelle der EKS, und wir formulierten eine Fürbitte, die wir online stellten.  


Wie weit bedeuten der Krieg und die Friedensbewegung eine Zeitenwende? 
Das Besondere an diesem Krieg ist, dass Russland völkerrechtswidrig einen souveränen, westlich ausgerichteten Staat angegriffen hat. Der vernünftige Weg, nämlich Russland einzubinden, Handelsbeziehungen zu unterhalten und einen tiefgreifenden Wandel zu ermöglichen, ist gescheitert. Russland greift seit dem ersten Tag die Zivilbevölkerung an und zerstört mutwillig die zivile Infrastruktur. Die Ukraine ist Opfer eines menschenverachtenden, brutalen Angriffs. Hier zu fordern, die Ukraine müsste Kompromisse eingehen und sich auf Friedensverhandlungen einlassen, würde bedeuten, dass sie ihre Bevölkerung einem Massaker preisgeben müsste. Das fordert die gesamte Friedensbewegung heraus, ihre Vorstellung von gewaltfreiem Widerstand zu überdenken. Ich erinnere mich daran, wie zu Beginn die ukrainische Bevölkerung sich unbewaffnet vor russische Panzer gestellt hatte. Sie hätten sie einfach umgewälzt, wären sie nicht gewichen.

Das fordert die gesamte Friedensbewegung heraus, ihre Vorstellung von gewaltfreiem Widerstand zu überdenken

Darf man sich als Christin oder Christ für den Einsatz und die Lieferung von Waffen aussprechen?
Die Frage, wer die Ukraine mit welchen Waffen unterstützen soll, muss die internationale Politik entscheiden. In der Schweiz müssten ja zunächst die Gesetze geändert werden, was zurzeit im Parlament diskutiert wird. Wichtig ist mir, dass die Ukraine Unterstützung erhält, um sich zu verteidigen und ihre Bevölkerung vor Plünderungen, Vergewaltigungen und Aushungern zu beschützen. Es ist auch aus christlicher Sicht die Pflicht von Regierungen, die Schwachen zu schützen.


Was ist die Aufgabe der Schweizer Kirche in diesem Krieg?
Zwei Dinge: erstens, wie immer unsere Guten Dienste anbieten. Das gehört zu der humanitären Tradition, die uns auszeichnet. In Zusammenarbeit mit dem Hilfswerk der Evangelischen Kirchen der Schweiz (Heks) unterstützen wir unsere Partnerkirchen in der Westukraine und in den umliegenden Ländern, damit sie Geflüchtete aufnehmen können. Zudem unterstützen wir die Kirchgemeinden in ihrem Engagement für die Geflüchteten in der Schweiz. Und zweitens ist es wichtig, dass wir uns darauf vorbereiten, der Ukraine beim Wiederaufbau zu helfen. Auch hier werden wir sicher mit unserem Hilfswerk Heks über die kirchliche Zusammenarbeit in Osteuropa aktiv werden.


Haben die Orthodoxen Kirchen, von denen ein grosser Teil treu hinter Putin steht, in diesem Krieg versagt?
Nein, das kann man pauschal so nicht sagen. Dieser Krieg hat die Orthodoxe Kirche gespalten. Der russisch-orthodoxe Patriarch Kyrill I. hat mit seiner Führungsriege versagt. Durch seine Rechtfertigung des völkerrechtswidrigen brutalen Angriffs Russlands hat er grossen Schaden für die Orthodoxe Kirche und die Christenheit verursacht. Aber er steht nicht für die Orthodoxen Kirchen insgesamt. Auch das hat dieser Krieg gezeigt.

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