«Ich muss mit meinem kleinen Verstand nicht alles begreifen»
Jacob Thiessen, in Kürze feiert die christliche Welt Ostern, das Fest der Auferstehung Christi. Umfragen zeigen, dass viele Mühe haben, an die Auferstehung zu glauben.
Die leibliche Auferstehung Jesu ist historisch so gut bezeugt wie kein anderes Ereignis der Weltgeschichte. Für mich gibt es keinen Grund, daran zu zweifeln, dass dies geschehen ist. Das bestätigt die göttliche Sendung von Jesus Christus.
Heutige Menschen stolpern gerade über die leibliche Auferstehung. Sie passt nicht ins naturwissenschaftliche Weltbild. Verschiedene Theologen behaupten daher, die Jünger hätten Visionen gehabt.
Ich bin in meinem Buch «Die Auferstehung Jesu in der Kontroverse» auf die verschiedenen Visionshypothesen eingegangen. Theologen wie David Friedrich Strauss oder Gerd Lüdemann vertreten die subjektive Visionshypothese. Demnach haben die Jünger in ihrer Trauer eine psychische Vision gehabt, die Auferstehung Jesu ist für sie rein psychisch bedingt. Die objektive Visionshypothese besagt, dass Gott den Jüngern diese Erfahrung geschenkt hat.
Sind Ihnen die Visionen zu wenig?
Ja, denn die Bibel berichtet eindeutig, wie die zweifelnden Jünger plötzlich von der Auferstehung überzeugt sind: Da ist zunächst das leere Grab Jesu, und die Frauen werden zu Zeuginnen, obwohl Frauen nach der jüdischen Mischna, der «mündlichen Tora», kein Zeugenrecht haben. Dann begegnet der Auferstandene den Jüngern. Die Ereignisse sind nicht psychisch oder physisch erklärbar oder erfunden. Der irdische Körper von Jesus ist verschwunden, man muss von einer Verwandlung ausgehen, wie der Apostel Paulus schreibt. Auch unsere Leiber werden bei der Wiederkunft Christi verklärt oder verwandelt werden.
Dennoch bleibt dies unbegreiflich. Die katholische Kirche spricht deshalb vom Geheimnis des Glaubens.
Unser Verstehen beruht auf der Vernunft, aber unsere Vernunft ist unvollkommen, begrenzt und beschränkt. Gott ist dies nicht, auch nicht in seiner Macht. Ich kann und muss nicht alles mit meinem kleinen Verstand begreifen. Schwierig wird es, wenn ich meinen Verstand zum Massstab aller Dinge mache. Wir sollten uns in unserem Verständnis und in unseren Vorurteilen hinterfragen lassen.
Ein weiterer Stolperstein: Die Bibel berichtet, dass Jesus Wunder gewirkt hat. Wie erklären Sie sich das?
Die Fragen lauten: Was ist ein Wunder und wer ist Jesus? Dass wir existieren, ist ein Wunder, die ganze Schöpfung ist ein Wunder. Ich verstehe Wunder weiter als göttliches Eingreifen in die Ereignisse der Weltgeschichte.
Und Jesus?
Jesus ist der verheissene Welterlöser. Als Johannes der Täufer im Gefängnis sass, kamen ihm Zweifel, ob Jesus der Messias sei. Jesus antwortete nicht: «Ja, ich bin es», sondern: «Erzählt, dass ihr seht, wie Stumme sprechen, Taube hören und Blinde sehen.» Jesus greift auf die Aussagen des Propheten Jesaja zurück, der ankündigt, dass in der messianischen Zeit Wunder geschehen werden. Jesus war klar, die Wunder sind einzigartig und bestätigen seine messianische und göttliche Sendung.
Der Neutestamentler Jacob Thiessen ist Rektor der STH Basel. Die Staatsunabhängige Theologische Hochschule Basel in Riehen versteht sich als Alternative zu den theologischen Fakultäten der staatlichen Universitäten. Sie wurde 2022 als universitäre Institution akkreditiert. Ihre Gründung erfolgte im Umfeld eines konservativ-evangelikalen Aufbruchs und wendete sich gegen eine rationale, entmythologisierende Bibelauslegung.
Bei den Wundern stellt sich die Frage, warum Jesus nur einzelne Blinde oder Kranke geheilt hat, warum nicht alle?
Gerade das macht das Neue Testament so unglaublich glaubhaft und zuverlässig. Es spekuliert nicht. In den späteren Evangelien und Apokryphen wird vom Wundertäter Jesus als Kind berichtet. Der biblische Jesus wollte nicht der Messias sein, wie ihn manche erwarteten. Er wollte nicht die Römer aus dem Land Israel vertreiben und seine Feinde besiegen. Er brachte die Botschaft der Nächsten- und Gottesliebe und wollte sein Leben für die Menschen hingeben. Er wollte nicht, dass die Leute ihm nachlaufen, weil er Wunder tut. Das sehen Sie bei der Speisung der 5000. Die Leute wollten Jesus zum König machen. Doch Jesus floh, er wollte kein «Brotkönig» sein. «Brotkönig» bezieht sich auf die Vorstellung, dass der neue Mose wie einst Mose dem Volk Manna in der Wüste geben wird. Jesus vollbrachte Wunder, die bestätigten, dass er der göttliche Erlöser ist. Er wollte nicht auf Wunsch Wunder vollbringen, damit die Leute ihm nachlaufen. Jesus sucht echte Nachfolger.
Was ist die wichtigste Botschaft von Jesus?
Sein Wirken und sein ganzes Leben. Sein Werk schliesst seine Botschaft und seine Wundertaten ein. Sie besagt, dass er ohne Sünde war und sein Leben als Opfer hingegeben hat. Durch dieses Opfer und den innewohnenden Heiligen Geist ist der Mensch befähigt, den Willen Gottes zu tun. Alles andere ist menschliche Moral und führt nicht zum Ziel. Wir sollen nicht moralisierend predigen, sondern das Evangelium verkündigen, so die Botschaft Jesu. «Wer die Sünde tut, ist der Sünde Knecht, wen aber der Sohn Gottes von der Sünde erlöst, der ist echt frei.»
Sie beschäftigen sich stark mit der Bibel. Was ist Ihnen aufgegangen?
Vieles. Mir ist es wichtig, die Bibel in den Ursprachen Hebräisch und Griechisch zu lesen und ausserbiblische Texte aus dieser Zeit zum Vergleich heranzuziehen. Die Bibel ist ja nicht mir nichts, dir nichts vom Himmel gefallen.
Kritisieren Sie die historisch-kritische Methode, mit der die gegenwärtige Theologie an die Texte herangeht?
Ich kritisiere keineswegs eine echte historische Auslegung der Bibel. Im Gegenteil, sie ist sehr zentral. Ich beobachte jedoch, dass die historisch-kritische Methode die historischen Hintergrundtexte aus jener Zeit nicht genügend berücksichtigt und zu schnell die biblischen Texte aus ihrem wirklichen historischen Kontext herausreisst. Mir ist es wichtig, dass man die Bibel nicht vorschnell dogmatisch versteht, sei es auf der liberalen wie auf der konservativen Seite. Die historisch-kritische Methode wird allzu oft dogmatisch angewandt.
Dogmatisch in dem Sinn, dass man im Sinn der Aufklärung alles ausschliesst, was nicht naturwissenschaftlich ist?
Ja, man lässt beispielsweise die Wunder Jesu nicht stehen, sondern versucht sie naturwissenschaftlich zu erklären, deutet die Texte soziologisch oder psychologisch um oder datiert sie auch deshalb später. Sinnvoller ist es, die Erzählungen und Aussagen Jesu in ihrem historischen Kontext zu betrachten und zu verstehen. Allein schon aufgrund der alttestamentlichen Verheissungen und der jüdischen Erwartungen zur Zeit Jesu, die dieser selbst auch kannte. Man sollte nicht davon ausgehen, dass es sich bei den Texten der ersten christlichen Gemeinden um spätere Überlieferungen handelt, die Jesus nachträglich in den Mund gelegt wurden.
Was ist für Sie die Bibel?
Das, was die Bibel an vielen Stellen von sich selbst sagt: Gottes Wort. Die Bibel wird an keiner Stelle als Menschenwort zitiert.
Aber sie wurde doch von Menschen geschrieben?
Natürlich, sie ist ja nicht einfach vom Himmel gefallen. Die Schreiber gingen jedoch davon aus, dass es sich um das Wort Gottes handelt. Aber nicht jede einzelne Aussage, die man aus der Bibel herausreisst, entspricht dem Willen Gottes.
Kann man sich die Bibel als Geschichte Gottes mit den Menschen vorstellen?
Man spricht von Inspiration: Wie diese Inspiration geschah, ist ein Geheimnis. Wir stehen vor der Frage, ob wir das glauben oder eben nicht. Gott hat auf vielfältige Weise gesprochen, auch durch seinen Sohn.
Braucht es ein Bekehrungserlebnis zu Gott, um die Bibel zu verstehen?
Wer die Wahrheit verstehen will, der muss sich auf die Wahrheit einlassen. Natürlich kann jeder die Bibel lesen und vieles auch im historischen Kontext verstehen, egal wo man geistig steht. Andererseits ist es auch klar, dass man die geistlichen Aspekte der Bibel nur begreifen kann, wenn man sich auf diese einlässt. Etwa die Erneuerung durch den Glauben an Jesus Christus oder die Kraft des Evangeliums. Andererseits kann ich ein Bekehrungserlebnis haben und mich trotzdem nicht genügend auf die Bibel einlassen. Meine Dogmatik ist dann so prägend, dass ich die Bibel so verstehe, wie ich sie verstehen will. Ich sehe dann nicht mehr, was mir der Text eigentlich zu sagen hat. Mir ist es wichtig, dass man die Bibel aus ihrer eigenen Sicht sowie im historischen Kontext begreift. Der Text sollte unsere Vorurteile korrigieren.
Wie kann man heute die christliche Botschaft so verkünden, dass sie verstanden wird?
Heute verkünden wir, ob «konservativ» oder «liberal», zu viel Moral und menschliche Dogmatik. Wir gehen zu wenig in die Tiefe der Texte. Das ist bedrückend und nicht befreiend. Das Evangelium, die Frohe Botschaft, will die Menschen aufrichten und befreien. Dabei ist es wichtig, dass wir z.B. den Begriff der Gnade in der Bibel richtig verstehen.
Was meinen Sie damit?
Gottes Gnade hängt in der Bibel eng mit seinem Bund, der damit verbundenen Erlösung und dem darin vermittelten Willen Gottes zusammen. Wir werden auf dieser Erde nie ohne Sünde sein. Wenn wir begreifen, dass Gottes Gnade genügt, um uns aus unserer Fehlerhaftigkeit zu befreien, wird das unser Leben verändern und prägen.
Bedeutet Gnade, dass Gott es uns immer wieder ermöglicht, neu anzufangen?
Als Christinnen und Christen dürfen wir scheitern, auferstehen und mit Gott neu anfangen. Das bedeutet Vergebung – auch im Sinn der Befreiung von der Last der Sünde. Wir sind nicht länger Sklaven unserer Sünden. Diese Vergebung kennt die Welt nicht. Die in Jesus Christus erfüllte Verheissung bedeutet, dass unsere Sünden vor Gott nicht mehr existieren. Sie wird uns befreien und lässt uns hoffnungsvoll in die Zukunft schauen, wenn wir sie in ihrer ganzen Fülle verstehen und annehmen.
Sünde, Gnade und Vergebung sind Begriffe, die heute anders verstanden werden. Heute sündigen wir, wenn wir zu viel essen.
Wir müssen die Menschen nicht überzeugen, sondern das Evangelium bezeugen. Jesus sagt, der Geist der Wahrheit wird die Menschen von ihren Sünden überführen. Wir selbst können das nicht. Wir dürfen darauf vertrauen, dass die Menschen eines Tages erkennen, wer sie sind, was sie brauchen und wie die Last der Sünde weggenommen werden kann. Es ist traurig zu sehen, wie viele Menschen die Hoffnung des Evangeliums nicht kennen.
Viele kennen diese Hoffnung nicht, aber die Sehnsucht nach Gott.
Nach Prediger 3, 11 hat Gott dem Menschen die Ewigkeit in das Herz gelegt. In bin überzeugt, dass der Mensch eine Ahnung von Gott hat, selbst wenn er dies nicht wahrhaben will.
«Ich muss mit meinem kleinen Verstand nicht alles begreifen»