«Ich schaffe es nicht, heterosexuell zu werden»

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24.08.2021
Dominik Stamm steht auf Männer. In freikirchlichem Umfeld gross geworden, besuchte er jahrelang Kurse mit dem Ziel, heterosexuell zu werden. Heute ist er in Beziehung mit einem Mann. An seinem Glauben aber hat er festgehalten.

«Ich möchte euch erzählen, weshalb ich keine Freundin habe.» Dominik Stamms Herz klopfte, als er das Gespräch mit seinen Eltern suchte, um ihnen von seiner Homosexualität zu erzählen. Damals war er 25 Jahre alt. Heute ist er 49.

Der Weg zum Coming-out war steinig. Stamm war in einer Freikirche im Kanton Schaffhausen gross geworden. In der Familie war der Glaube wichtig. Noch heute kann Stamm sein Bekehrungserlebnis datieren. «Das war am 17. August 1986», erzählt er schmunzelnd und fügt ernst an: «Es bedeutet mir heute noch viel.» Damals war gleichgeschlechtliche Liebe kein Thema. Was nicht sein durfte, war schlicht nicht vorstellbar. Heute sei das anders, auch in frommen Kreisen: «Homosexuelle Menschen gibt es überall, ob man es wahrhaben will oder nicht.»

 

«In manchen frommen Kreisen besteht die Erwartung, dass die Homosexualität irgendwann mal – schwupp – einfach weg ist.»

 

Stamm fühlte bereits als Jugendlicher, dass er auf Männer stand. Den ersten intimen Kontakt hatte er mit 19 Jahren. Ab dann führte er ein Doppelleben, das ihn innerlich zerriss. Er war in der Freikirche aktiv und suchte gleichzeitig den anonymen Kontakt zu schwulen Männern. «Ich brachte es nicht mehr über mich, in der Jungschar Andachten zu halten», erzählt er, «mich plagten suizidale Gedanken.» Mit 21 fasste er sich ein Herz und vertraute sich einem Freund an. «Das war eine enorme Befreiung», erinnert er sich, «zu merken: Ich habe es geschafft, mit jemandem darüber zu reden. Er verachtet mich nicht.»

Schwierige Beziehung zum Vater

Stamms Eltern fielen aus allen Wolken, als er sich vier Jahre später auch ihnen gegenüber outete. Aber sie zeigten Verständnis. Die Beziehung zum Vater gestaltete sich dennoch schwierig, denn Vater und Sohn waren nicht auf einer Wellenlänge – seit Kindheit nicht. Der Vater war Handwerker, ein Machertyp, der keine Schwäche zeigte. Der Sohn hingegen war sensibel, intellektuell, musikalisch, ein Beziehungsmensch. Er lernte kein Handwerk, sondern er machte das KV auf der Bank. «Oft habe ich als Kind gehört: Du hast zwei linke Hände, du kannst nichts», erinnert er sich. «Bis ich gemerkt habe: Ich muss nicht Bäume fällen, um etwas wert zu sein.»

Als Stamm 44 Jahre alt war, wurde sein Vater schwer krank. Die Krankheit verschaffte den beiden einen neuen Zugang zueinander. Zum ersten Mal sah der Sohn seinen Vater weinen. «Das hatte ich früher vermisst», sagt er. Das Jahr bis zum Tod des Vaters sei für ihn wertvoller gewesen als alle 44 Jahre davor.

Kurse hochumstritten

Nachdem sich Dominik Stamm mit 21 Jahren einem Freund anvertraut hatte, besuchte er Kurse von Living Waters, einer evangelikalen Organisation aus den USA. Das Ziel: heterosexuell werden. Es waren Selbsthilfekurse nach dem Prinzip «Betroffene helfen Betroffenen». Jahrelang nahm Stamm an den Kursen teil und leitete sie später auch selbst.

Angebote wie Living Waters sind hochumstritten. Psychiatrische und psychologische Fachgesellschaften lehnen die sogenannten «Konversionstherapien» ab. «Solche Therapieverfahren sind unethisch, menschenrechtsverletzend und gesundheitsschädigend», schreibt etwa die Föderation Schweizer Psychologinnen und Psychologen.

Auch Stamm kennt Leute, die schlechte Erfahrungen gemacht haben. Er selbst berichtet aber nur Gutes: «In den Kursen habe ich gemerkt, dass ich nicht allein bin, dass es auch andere Menschen gibt, deren Homosexualität in Konflikt mit ihrem Glauben steht.» Der offene Austausch habe ihm geholfen, sich weiterzuentwickeln. Nur das Ziel, die sexuelle Orientierung zu wechseln, sei mehr und mehr in den Hintergrund gerückt.

 

«Wir ringen um unsere Beziehung, wir beten miteinander, wir weinen miteinander.»

 

In manchen frommen Kreisen bestehe die Erwartung, dass die Homosexualität irgendwann mal – schwupp – einfach weg sei. Stamm aber musste sich eingestehen: «Ich schaffe das nicht.» So kam der Wunsch auf, eine feste Beziehung mit einem gläubigen Mann zu führen. Über ein Inserat lernte er Martin kennen. Seit fünf Jahren sind sie ein Paar.

Wie hat sein Umfeld darauf reagiert? «Einige haben schon leer geschluckt, als ich ihnen Martin vorgestellt habe», sagt Stamm. Seine Schwester habe ihm gesagt, er habe aufgegeben. «Dabei versteht sie sich heute gut mit Martin, sie machen zusammen oft Spässe», schmunzelt er. Zum Glück habe auch sein Vater Martin noch kennenlernen können. «Martin war oft dabei, als ich ihn im Spital besuchte. Wie meine Eltern ihn aufgenommen haben in die Familie, war schön.»

Im Ägerital (ZG), wo Dominik Stamm heute lebt, ist er in der reformierten Kirche aktiv. Er ist Lektor im Gottesdienst, singt im Kirchenchor, gehört zur Pfarrwahlkommission. Und er engagiert sich im Besuchsdienst. «Das ist mein Ein und Alles», schwärmt er, «älteren Menschen eine Freude zu machen. Das habe ich als Kind schon gern getan.»

«Ich will kein Vorbild sein»

Manchmal erlebt Stamm heute noch Ablehnung. «Aber diese Leute sehen nicht, dass ich einen jahrelangen Weg gegangen bin, mit Fragen und Krisen, bevor ich mich für die Beziehung mit Martin entschieden habe», stellt er fest. «Wir ringen um unsere Beziehung, wir beten miteinander, wir weinen miteinander.» Jede Lebensgeschichte sei individuell. Er will auch kein Vorbild sein für andere Homosexuelle aus frommen Kreisen. «Du kannst nicht sagen: Wenn Dominik das so macht, sollen es andere auch so machen.» Es sei nicht an den Menschen, zu urteilen. «Wir Menschen sehen voneinander nur die Oberfläche. Gott sieht in unser Herz.»

Text | Foto: Stefan Degen – Kirchenbote SG, September 2021

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