«Ich will die Karten in die Ecke knallen»

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27.06.2022
«Für uns ist es ja wie ein Spiel. Aber mir kommt das Heulen, wenn ich mir vorstelle, dass dies ein permanenter Zustand ist», sagt eine Frau, die soeben die Stationen des Demenzsimulators absolviert hat. Krampfhaft versuchte sie, mit den Gartenhandschuhen einen Kasack zuzuknöpfen.

Sie übte sich in Geduld und versteht plötzlich, dass ein Mann aus ihrer Bekanntschaft nicht mehr fähig ist, den Hosenschlitz alleine zuzumachen. Nebenan müht sich eine Frau ab, sich sechs Namen mit Geburtstagsdaten zu merken und sie dann aus dem Gedächtnis, spiegelverkehrt und in die gegenläufige Richtung aufzuschreiben. Die Frau gibt nach grosser Anstrengung desillusioniert auf. 

13 alltägliche Situationen
Ein älterer Herr wiederum schiebt ungelenk ein Spielzeugauto über eine gezeichnete Strasse. Auch sie ist gespiegelt. «Da verzweifelst du fast», sagt er, nimmt erneut Anlauf, eine Kurve anzufahren, fährt aber über sie hinaus. Mit viel Ausdauer kommt er schliesslich ans Ziel. Der «Autofahrer» hat sich, zusammen mit weiteren Interessierten, im Kirchgemeindehaus in Ganterschwil eingefunden, um zu erleben, wie sich Demenz anfühlen könnte. «Meine Schwester ist dement», begründet die eine ihr Kommen. «Ich arbeite in einem Altersheim», sagt eine andere. Sie wissen: Es gibt nicht die Demenz. Wenn das Gehirn nicht mehr so funktioniert, wie es sollte, kommen je nach betroffener Hirnregion die sozialen Fähigkeiten abhanden, die Motorik ist eingeschränkt, das eigene Kind ist einem plötzlich fremd, die Orientierung geht verloren, planen und lernen wird schwierig, es wird nach Wörtern gesucht, Dinge sowie Abläufe gehen vergessen.

 

In solch ausweglosen Situationen sind gutgemeinte Zusprüche wie «das kannst du!», «du musst aufpassen wenn du über die Strasse gehst!» oder «du musst nur alles aufessen, das ist doch kein Problem!» völlig daneben.

 

Die Teilnehmer wollen Demenzbetroffene besser verstehen und adäquat auf sie reagieren können. Maya Hauri Thoma von der St. Galler Kantonalkirche fragt vor dem Absolvieren der Stationen leicht ironisch: «Es ist doch kein Problem, einen Frühstückstisch zu decken, oder? Wie viele Schritte, glaubt ihr, braucht es, bis alles vorbereitet ist?» «So um die 20», tönt es unisono. Doch wer beginnt, die Kärtchen zu sortieren, merkt schnell: Der Handlungsablauf ist komplex, eine Reihenfolge einzuhalten, schwierig. Oft geht etwas vergessen, man beginnt wieder von vorne, reiht von Neuem ein. Der Moment kommt, da würde man die Karten am liebsten in eine Ecke knallen und gibt genervt auf, ohne die 44 Schritte bis zum Biss ins Brötchen in die richtige Abfolge gebracht zu haben. 

Wut, Ohnmacht, Beschämung
In solch ausweglosen Situationen sind denn auch die gutgemeinten Zusprüche wie «das kannst du!», «du musst aufpassen wenn du über die Strasse gehst!» oder «du musst nur alles aufessen, das ist doch kein Problem!» völlig daneben, nicht dienlich. Im Gegenteil, sie verniedlichen das ernsthafte Problem, denn nicht umsonst greift jemand nicht mehr zu Gabel und Messer und isst mit den Händen. Denn: Das Besteck ist nicht mehr bedienbar, die Motorik versagt.

Dieses neu errungene Verständnis regt sich auch an diesem Impulsnachmittag. Ohnmacht, Hilflosigkeit, Wut und Ungeduld machten sich an den Stationen breit, aber auch Beschämung. Die Pflegefachfrau hat realisiert, dass sie bei ihrer Arbeit oft zu diesen gutgmeinten Sprüchen greift. «Dies will ich in Zukunft vermeiden.» Und Maya Hauri sagt: «Die Menschen spüren, wie sie behandelt werden. Wir müssen lernen zu akzeptieren, statt zu korrigieren.» Es gelte, sich auf die Welt der Demenzkranken einzulassen.

Text | Fotos: Katharina Meier – Kirchenbote SG, Juli-August 2022

  

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