«Im Schöpfungsbericht liegt eine Wurzel des modernen Menschenbildes»

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23.12.2021
Zu den bekanntesten biblischen Texten gehören die Schöpfungsberichte. Sie erzählen vom Anfang der Welt und dem Beginn der Menschheit. Ein Gespräch mit dem Alttestamentler Konrad Schmid über die Schöpfung, den Urknall und die Wurzeln der Demokratie.

Die Genesis, das erste Buch der Bibel, gilt als eines der populärsten. Woher kommt das Interesse an alten Geschichten?
Konrad Schmid: Das liegt an einer Ursprungsfaszination. Die Urgeschichte in Genesis 1-11 erzählt eben nicht nur das, was zeitlich zu Beginn ist, sondern vor allem das, was von der Sache her am wichtigsten ist.

Und das wäre?
Die Conditio humana, das Wesen des Menschen und seiner Lebensumstände: Weshalb gibt es Gebärschmerzen? Wieso müssen wir arbeiten, um unseren Lebensunterhalt zu bestreiten? Wie sind Städtebau, Musik, Technik und Weinbau zustande gekommen? Je wichtiger etwas ist, desto mehr wird es an den Anfang zurückprojiziert.

Ganz am Anfang der Bibel steht ein Schöpfungsbericht. Was sagt er über das Menschsein aus?
Zentral ist die Gottebenbildlichkeit. Der Text sagt: «Lasst uns Menschen schaffen, nach unserem Ebenbild, uns gleich.» Damit ist nicht gemeint, dass der Mensch irgendwie ähnlich aussieht wie Gott. Sondern der Mensch ist Gottes Ebenbild im Blick auf seine Funktion, nämlich, dass er die Welt lenkt.

In Ihrem neuen Buch schreiben Sie, durch die Gottebenbildlichkeit entwickle sich das Bild eines individualisierten Menschen. Hat die Bibel den Menschen als Individuum erfunden?
Das ist tatsächlich eine der grössten geistesgeschichtlichen Entdeckungen der Bibel, die die westliche Welt heute generell prägt. Dass man sagt: Es gibt so etwas wie einen fundamentalen Wert jedes einzelnen Menschen, ob Mann oder Frau, der schlicht durch das Menschsein gegeben ist. Für einen altorientalischen Menschen gab es nicht die Vorstellung einer einheitlichen Menschheit. Diese ist vielmehr sogleich zerfallen in Könige, Freie und Sklaven.

 

«Fragen rund um den Urknall sind für die Lebenswelt der meisten Menschen heute komplett irrelevant.»

 

Dass diese drei Klassen etwas Gemeinsames sind, nämlich Menschen, war nicht von vornherein klar. Die Unterschiede waren so enorm, dass man nicht im Bewusstsein lebte, dass Menschen gleichberechtigte und gleichbefähigte Wesen sind. Es war für lange Jahre in der altorientalischen Geschichte klar: Unterscheiden zwischen Gut und Böse kann eigentlich nur der König. 

Die Idee der Gottebenbildlichkeit war neu?
Die Vorstellung eines Ebenbilds Gottes kennt man aus dem alten Orient gut. Dort ist der König Gottes Ebenbild, nämlich insofern, als er Gottes Willen auf der Erde als Stellvertreter ausführt. Der Schöpfungsbericht der Bibel ist im babylonischen Exil entstanden, als die Judäer keinen König mehr hatten. Dass nun alle Menschen Gottes Ebenbilder sein sollten, war ein radikaler Schritt der Demokratisierung: Jedem Menschen wurde königliche Qualität zugestanden. Jeder Mensch kann zwischen Gut und Böse unterscheiden. Jeder Mensch kann und muss ein verantwortungsvolles Leben führen. In Genesis 1 wird das menschliche Individuum als verantwortliche Gestalt wahrscheinlich das erste Mal in der Geistesgeschichte so festgehalten. Darin liegt eine wichtige Wurzel vom neuzeitlichen Verständnis des Menschen und letztlich auch der Menschenrechte.

Weniger modern erscheint die Vorstellung, dass Gott die Welt in sieben Tagen erschaffen habe. In welchem Verhältnis steht der Schöpfungsbericht zu den heutigen naturwissenschaftlichen Erkenntnissen?
In den USA gibt es die überhitzte Debatte: Schöpfungsglaube oder Naturwissenschaft. Wenn man aber auf die biblischen Schöpfungsüberlieferungen schaut, muss man zuerst einmal sagen: Sie verstehen sich selber als Naturwissenschaft. In der ersten biblischen Schöpfungsgeschichte macht Gott die Himmelskuppel, ordnet die Welt, teilt das Wasser der Wolken vom Wasser der Meere. Dieser Text bezieht sich auf die babylonische Wissenschaftstradition. Die Bibel wollte damals auf der Höhe der Wissenschaft sein. Deswegen hat man in der Schöpfungsüberlieferung den damaligen Stand des Wissens übernommen – allerdings mit einer radikalen Transformation: Im alten Israel gibt es nur eine Gottheit. Dieser eine Gott hat die ganze Welt gemacht, schlichtweg alles, was entstanden ist. Der Gegensatz ist also nicht Schöpfungsbericht und Naturwissenschaft, sondern antike und moderne Naturwissenschaft.

Gibt es auch Gemeinsamkeiten von antiker und moderner Naturwissenschaft?
In einem Punkt ist der Unterschied gar nicht so gross. Die biblischen Schöpfungserzählungen sind mythologisch gedacht. Mythen erklären Dinge, wie sie sind, indem sie erzählen, wie es dazu gekommen ist. Sie behandeln Wesensfragen als Ursprungsfragen. 

Und wo spiegelt sich das in der heutigen Naturwissenschaft?
Heute wird manchmal über das mythische Denken gelächelt. Aber wenn man schaut, wie interessiert die Menschen an kosmologischen Fragen sind, am Urknall, wie das Besucherzentrum im CERN Publikum in Scharen anzieht, dann merkt man: Auch für das Weltverständnis eines modernen Menschen spielt es offenbar eine Rolle, dass man eine Idee hat: Woher kommen wir? Wie ist die Welt entstanden? Dass man weiss: Vor 13,8 Milliarden Jahren gab es einen Urknall, seither dehnt sich das Universum aus und irgendwann zieht es sich vielleicht wieder zusammen. All diese Fragen sind für die Lebenswelt der meisten Menschen heute auf den ersten Blick komplett irrelevant.

Und auf den zweiten Blick?
Ein Mensch mit seinen 80, 90 Jahren Lebenserwartung – innerhalb der 13,8 Milliarden Jahre ein Nichts. Hinter dieser Beobachtung steckt offenbar eine existenzielle Frage, die die Menschen auch heute noch fasziniert.

Interview: Stefan Degen | Foto: Pixabay / Stefan Degen – Kirchenbote SG, Januar 2022

 

 

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