In Liebe verbunden
Bald nach ihrem Eintritt in ein St. Galler Pflegeheim ist sie mir aufgefallen. Als ich sie erstmals besuchte und in ihrem geschmackvoll eingerichteten Zimmer willkommen geheissen wurde, empfing sie mich mit einem Lächeln, welches ihr Gesicht von innen durchleuchtete. Wir unterhielten uns und ich fragte sie, was sie in das Pflegeheim gebracht hätte. Sie antwortete freimütig: «Demenz. Als mir dies bewusst wurde, beschlossen mein Partner und ich, uns einen Ort zu suchen, und den haben wir hier gefunden.»
Ich war ein wenig perplex, denn ich hätte es dieser rüstig wirkenden, gepflegten, feinsinnigen und kultivierten Frau nicht angemerkt. Ich fragte: «Wie gehen Sie damit um?». Ihre Antwort: «Ich nehme es einfach an.» Sie sagte dies so überzeugend, dass ich ihr sofort glaubte. Nicht nur als Seelsorgende in diversen Pflegeheimen, sondern auch als Tochter einer demenzbetroffenen Mutter weiss ich, wie wenig selbstverständlich dies ist. Dass die beiden sich dann für dieses Interview zur Verfügung stellten, freut mich sehr.
Wann haben Sie gemerkt, dass etwas nicht mehr so ist wie früher?
Sie: Eigentlich habe ich es ziemlich früh gemerkt, doch als ich zu einer Abklärung ging, sagte man mir, alles sei in Ordnung. Es kam damals gerade alles zusammen. Im Jahr 2019 lernten mein Partner und ich uns kennen, und ein Jahr später kam dann auch noch Corona. Da zogen wir zusammen. Dann folgten diese langen Abklärungen mit Fehldiagnosen. Dass wir heute immer noch zusammen sind, ist für mich ein riesiges Geschenk.
Er: Als wir uns kennen lernten, hatten wir zunächst ein ganz normales Jahr. Ich wusste nichts von ihrer Diagnose. Die Psychiaterin behandelte sie gegen Depressionen, schickte sie schliesslich in Tageskliniken. Doch das half alles nichts. Heute weiss ich, dass die Symptome sich sehr ähneln und oft verwechselt werden. Ich wusste bald, dass da was nicht stimmen kann. Einmal in einer Rehaklinik habe ich miterlebt, wie sie ihr Zimmer nicht mehr wiederfand, weil sie sich im Stockwerk irrte, und sie konnte die Uhr plötzlich nicht mehr lesen. Ich bestand auf einer gründlichen Untersuchung. Schliesslich hat der Hausarzt sie endlich an die Neurologie überwiesen und dort wurde sie abgeklärt mit MRI, Hirnflüssigkeit und anderen Tests. Vor 1,5 Jahren bekamen wir dann die Diagnose nach einer langen Odyssee. Das war dann erst mal eine riesige Erleichterung.
Wie gehen Sie beide mit der Diagnose um?
Sie: Ich bin ein Mensch, der wissen will und nicht verdrängen. Dass ich mein Kurzzeitgedächtnis verliere, tut schon weh, auch der Verlust des Orientierungssinnes. Wenn ich unterwegs bin, habe ich das Handy dabei, falls ich mich verlaufen würde.
Er: Wissen will ich auch. Aber ich bin auch wütend auf die Diagnose, auf die Krankheit. Meine Strategie ist, dass ich ganz viel lese zum Thema Demenz und Alzheimer. Als die Diagnose dann da war, haben wir aktiv nach einem Platz in einem Pflegeheim gesucht.
Das ist erstaunlich, nur wenige Menschen gehen so proaktiv damit um. Erzählen Sie, wie Sie zu diesem Entscheid kamen.
Sie: Ich wollte meinem Partner nicht zur Last fallen und dennoch möglichst lange viel selbständig machen können. Aber die Suche war nicht einfach. Wir haben bestimmt zehn Heime angeschaut. Und hier war es mein Bauch, der entschied. Als ich aus dem Auto ausstieg, sagte ich: «Hier bleibe ich». Dieser Eindruck hat sich bestätigt. Zuerst wollte ich alleine eintreten. Doch nach einer Woche sagte er, er komme auch (Anm: ihre Zimmer liegen direkt nebeneinander).
Er: Ich habe schnell gemerkt, dass es für mich auch passt. Ich manage für sie die Termine (Arztbesuche, Coiffeurtermine, Kulturtermine, Freunde, auch unser Interview), gebe Struktur, sorge für die Einnahme der Medikamente, hole die Post und helfe mit dem Handy. So kann sie weiterhin in der tiefsten Pflegestufe bleiben.
Das täglich gebetete Gelassenheitsgebet von Reinhold Niebuhr ist ihre grösste Kraftquelle. Auch Engel sind zu finden als jenseitige Helfer und Kraftquellen.
Was hilft Ihnen, mit der Diagnose umzugehen?
Sie: Ich nehme die Krankheit an. Meine Mutter ist mir dabei ein riesiges Vorbild. Von ihr habe ich so viel gelernt. Sie war für die Familie da, eine liebe Frau und hat nie gejammert. Ich will aus der Diagnose das Beste machen. Ich bin so dankbar! Da gibt es noch so viel Schönes, was ich geniessen kann. Auch Kultur, wir gehen oft zusammen an Konzerte oder Veranstaltungen.
Er: Bei mir ist es mit dem Annehmen ein wenig schwieriger. Meine Wut hat ja eigentlich keinen Adressaten ausser die Krankheit selbst. Dass diese auch den Menschen verändert, finde ich persönlich das Schlimmste. Meine Strategie ist es, möglichst viel zu wissen. Ich habe sehr viele Bücher über Demenz gelesen, bin auch online unterwegs und daher bezüglich der Forschungen immer auf dem aktuellen Stand. Ich hoffe darauf, dass Medikamente entwickelt werden, die helfen, die Krankheit bekämpfen zu können. Dass sie die Krankheit annehmen kann, macht es mir allerdings auch leichter. Und beide besuchen wir Treffen, sie für Alzheimer-Betroffene, ich für Angehörige. Für Angehörige habe ich auch schon ein hilfreiches Seminar besucht. Monatlich habe ich ein Gespräch mit einem Psychiater. Das tut mir gut. Und ich bete jeden Abend, dass die Krankheit gestoppt wird. Zwar bin ich aus der katholischen Kirche ausgetreten, doch ich glaube an Gott. Und auch soziale Kontakte pflegen wir bewusst. Das tut nicht nur der Seele gut, sondern ist auch ein Training für das Gehirn.
Sie: Achtung und Liebe füreinander ist auch eine ganz starke Kraft.
Er: Das kann ich nur bestätigen. Sie ist mir seit der Krankheit noch mehr ans Herz gewachsen.
Sie: Wir haben aber auch manchmal Streit.
Er: Wir sind beide Hitzköpfe und eigenständige Menschen. Der Grat zwischen Unterstützung und Bevormundung ist sehr schmal. Wo soll ich unterstützen? Wo ist meine Hilfe nicht erwünscht?
Sie: Genau, dann reagiere ich empfindlich, denn das kann ich schliesslich noch. Und doch möchte ich an dieser Empfindlichkeit arbeiten, denn mir ist wichtig, dass wir es beide gut haben. Ich kann nachvollziehen, dass dies für ihn ganz schwierig ist. Zum Glück sind wir beide nicht nachtragend.
Welchen Tipp können Sie Betroffenen mit auf den Weg geben?
Sie: Annehmen, nicht hadern. Nicht aufgeben! Das Beste daraus machen. Sich selbst nicht mit früher vergleichen, sonst wird man nur traurig, sondern daran denken, was man jetzt noch kann. Und das dann voll ausleben und geniessen.
Ich freue mich über jeden kleinen Erfolg, wenn ich etwas wieder kann, von dem ich glaubte, es ginge nicht mehr.
Er: Ein bewusster Umgang mit der Krankheit inklusive ärztlicher Abklärung – dann kennt man den «Feind». Aus der Angehörigengruppe kenne ich viele verzweifelte Frauen, deren Männer sich nicht abklären lassen wollen. Hilfe annehmen. Sich Freiräume nehmen und diese geniessen, wie zum Beispiel mein wöchentliches Mittagessen mit Kollegen.
Vielen Dank für das eindrückliche Gespräch!
«Geniesse den Tag, lebe den Moment, fülle jede Minute deines Lebens, ohne an morgen zu denken.» Diese heilige Gegenwärtigkeit, die von Kindern gelebt und Meditierenden erstrebt wird, ist auch in und durch die Demenz erfahrbar.
«Carpe diem» ist ein lateinischer Ausdruck und bedeutet „Nutze den Tag“ oder „Pflücke den Tag“. Er stammt aus einem Gedicht des römischen Dichters Horaz und drückt die Aufforderung aus, den Moment zu genießen und die Gegenwart zu schätzen, ohne sich zu sehr um die Zukunft zu sorgen.
In Liebe verbunden