Industriepfarramt: das Ende eines Pionierprojekts
Nach über 50 Jahren schliesst das ökumenische Pfarramt für Industrie und Wirtschaft in Basel seine Türen. Die vier Trägerkirchen aus Basel-Stadt und Baselland steigen aus. Für ein weiteres Engagement fehle das Geld.
Die Katholiken haben den Vertrag auf Ende 2023 gekündet. Die Reformierten stellen die Finanzierung mit der Pensionierung des langjährigen Stellenleiters Martin Dürr Ende September ein. Damit endet ein Stück Beziehung zwischen der Wirtschaft und den reformierten Kirchen der Schweiz.
Pionierprojekt
Das Industriepfarramt war bei seiner Gründung 1971 ein Pionierprojekt und ist bis heute in der Schweiz einzigartig. 1969 führten der reformierte Pfarrer Felix Tschudi und sein katholischer Kollege Andreas Cavelti einen ersten «Pfarrerkurs für Industriefragen» mit 25 Teilnehmern bei der damaligen J. R. Geigy AG durch. Die Idee eines Industriepfarramts war geboren. Seither vermittelt die Institution zwischen Landeskirchen und Arbeitswelt. Sie gilt heute als Kompetenzzentrum für Fragen über Wirtschaft, Arbeit, Spiritualität und Ethik.
Es tue ihm leid, «dass die Kirchen eine der letzten Stellen aufgeben, die Menschen mitten im Leben bei der Arbeit aufsucht, wo viele einen grossen Teil ihrer Zeit und Energie investieren», sagt Martin Dürr. «Ich verstehe, dass die Schliessung aus Spargründen notwendig ist. Ich frage mich aber, ob das der Weisheit letzter Schluss ist.»
Viele seien der Meinung, dass aufsuchende Kirche, wie sie das Industriepfarramt praktiziere, nicht funktioniere, niemand würde deswegen der Kirche beitreten. «Es kann uns als Kirche nicht nur darum gehen, Mitglieder zu gewinnen, sondern wir sollten grundsätzlich mit gesellschaftlich und menschlich relevanten Themen präsent sein», findet Dürr.
Die vom Turbo-Kapitalismus Vergessenen
Auf Facebook postete der Pfarrer: «Das Industriepfarramt war über 50 Jahre lang ein Ort der Ermutigung für Engagierte für Gerechtigkeit, Auffangbecken für die vom Turbo-Kapitalismus Vergessenen, Sensor in der Arbeitswelt und Gesellschaft für Zukunftsängste, Brückenbauer zwischen Arbeitgebenden und Arbeitnehmenden, ein bisschen Sand im Getriebe der Zeit der Selbstoptimierung und Selbstausbeutung.» Dürr blickt unter anderem zurück auf «das Engagement für Frauen, erschöpfte Mütter, verzweifelte Lehrlinge, in die Bedeutungslosigkeit fallende Pensionierte und engagierte Menschen, die im Burn-out landen».
Standen bei der Gründung die Arbeiterinnen und Arbeiter im Fokus, kümmerte sich das Industriepfarramt bald auch um Arbeitslose und Armutsbetroffene und weitete sein Engagement auf die Arbeitgebenden aus. Der Industriepfarrer pflegt Beziehungen bis in die Chefetagen. Vertrauen aufbauen sei eine wichtige Aufgabe, die Zeit, Engagement und Ausdauer erfordere, so Dürr.
Zunächst einmal zuhören
Nicht erst seit dem CS-Crash sind viele der Ansicht, dass Banker und Führer globaler Unternehmen «böse» sind. Dieses Pauschalurteil existiere auch in der Kirche, sagt Dürr. Zwar sähen das mittlerweile viele Pfarrpersonen differenzierter, und manchmal sei es durchaus berechtigt. «Wenn ich aber einen Wirtschaftsvertreter zu einer politischen Stellungnahme einlade und ihm aus Pfarrkreisen von Anfang an böse Absichten unterstellt werden, gibt mir das zu denken. Wer sich auf ein solches Gespräch einlässt, dem sollte man zuhören.»
Martin Dürr kann sich vorstellen, dass er Veranstaltungen, die ihm Freude bereiteten und bei Gästen und Publikum gut ankamen, in Eigenregie auch nach seiner Pensionierung weiterführt. Ihn interessieren im Moment biografische Themen. Seine Gäste reden darüber, wer oder was sie geprägt hat, welche Ressourcen sie haben und welche Werte ihnen im Leben und bei der Arbeit wichtig sind. Darum geht es auch in der aktuellen Gesprächsreihe mit erfolgreichen berufstätigen Frauen, die der Industriepfarrer moderiert.
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