Jahreswechsel von Hand einläuten

von Claudia Koch
min
29.12.2023
In der evangelischen Kirche in Alterswilen (TG) hängt eine Glocke, die zwar nicht mit den höchsten Superlativen punkten kann. Gerade zum Jahreswechsel spielt sie aber eine ganz besondere Rolle.

Eigentlich läutet die zweitkleinste Glocke in der evangelischen Kirche in Alterswilen der Kirchgemeinde Kemmental nur bei zwei Gelegenheiten: kurz vor einer Kirchgemeindeversammlung und zu Silvester. Die Glocke hoch oben im Kirchenturm, mit 64 Metern der zweithöchste im Thurgau, weist noch eine weitere Besonderheit auf: Sie stammt aus dem Jahr 1362 und ist damit die zweitälteste datierte Glocke im Thurgau, die notabene auch heute noch von Hand geläutet wird.

Gelegentlich kommt sie aber auch zu «Unzeiten» zu einem Einsatz. «Wie kürzlich», erzählt der Präsident der Kirchenvorsteherschaft Hans Krüsi, «als ein Kinder- und Jugendanlass stattfand». Ein Posten auf dem Programm war die Besichtigung des Kirchenturms und der Glockenstube. Krüsi erzählt weiter: «Alle Kinder und Jugendlichen erhielten einen Pamir als Gehörschutz, und wer wollte, konnte versuchen, die Glocke mit dem Seil zum Läuten zu bringen.» Alle waren total begeistert und die Freude war ihnen anzusehen.

Krüsi, selber ein grosser Glockenfan, findet es wichtig, mit solchen Aktionen einen positiven Bezug zu Glocken herzustellen. Kritik am Glockengeläut gebe es ja genug, so Krüsi.

Feierlicher Glockenaufzug: 1936 wurden die alten Glocken im Alterswiler Kirchenturm durch fünf neue ersetzt. Die Mittlere aus dem Jahr 1362 blieb jedoch erhalten.

Feierlicher Glockenaufzug: 1936 wurden die alten Glocken im Alterswiler Kirchenturm durch fünf neue ersetzt. Die Mittlere aus dem Jahr 1362 blieb jedoch erhalten.


Glocke vor dem Einschmelzen gerettet

Dass die Glocke nicht wie ihre zwei Genossinnen beim Ersatz des Geläuts 1936 eingeschmolzen wurde, ist dem Veto zweier Kemmentaler zu verdanken. Diese zahlten 1200 Franken, damit diese erhalten bleibt. Die Glocke hängt wohl am alten Holzjoch – im Gegensatz zu den neuen, mit Stahljochen versehenen Glocken. Sie wurde nicht ins Geläute mit den fünf Glocken integriert, aber im Glockenstuhl unterscheidet sie sich vom Einbau her nicht von den übrigen Glocken.

«Obwohl die Glocke aus meiner Sicht sich durchaus ins ausgesprochen schöne Vollgeläut hätte integrieren lassen», sagt der Glockenexperte Hans Jürg Gnehm aus Affeltrangen. Die 430 Kilogramm schwere, auf den Ton h gestimmte Glocke sei seiner Ansicht nach immer noch gut erhalten. Und Krüsi doppelt nach: «So eine alte Glocke im Kirchturm zu bewahren, die seit vielen Jahrhunderten denselben beseelten Klang hat, ist würdevoll. Sie spiegelt Zeit und Ewigkeit wider.»

Kein alter Brauch
Landauf und landab wird in der Silvesternacht das alte Jahr aus- und das neue Jahr eingeläutet. Der Brauch des Silvesterläutens ist jedoch noch gar nicht so alt, wie man allgemein vermuten würde. Auch hier weiss Hans Jürg Gnehm einiges zu berichten. Im Buch «Der Sigrist», 1972 herausgegeben von einem Winterthurer Verlag, schreibt Beatrice Grenacher-Berthoud, dass dieser Brauch im Kanton Zürich im 18. und 19. Jahrhundert in den Landgemeinden eingeführt wurde. Gnehm vermutet, dass dieser Zeitpunkt auch für den Thurgau passen könnte.

Das Silvesterläuten gefiel jedoch nicht allen und wurde gar als Unfug angesehen, der nach Heidentum rieche. Auch trieben es die jungen Läuterbuben in einigen Zürcher Kirchgemeinden etwas zu bunt, so dass das Läuten in der Silvesternacht zeitweise untersagt wurde. Doch der Brauch setzte sich durch und wird bis heute gepflegt.

Teilweise kamen oder kommen auch Posaunenchöre zum Einsatz, um das neue Jahr vom Kirchturm herunter willkommen zu heissen. Laut Gnehm wurden früher die Läuterbuben am Silvesterabend vom Mesmer verköstigt und erhielten einen Batzen, das heisst, meist den Jahreslohn für ihren Einsatz. «Vielleicht gab es auch den einen oder anderen Schluck Alkohol dazu», sagt der Glockenexperte.

LUCAS MARKUS MATHEUS IOHANNES ANNO DNI MCCCLXII

Den Rhythmus am Zugseil finden
Doch zurück zur Glocke in Alterswilen. Seit über zehn Jahren ist Mesmer Christian Spadin zuständig dafür, dass diese rechtzeitig und gekonnt zweimal pro Jahr zu ihrem Einsatz kommt. Gelernt hat er den «richtigen Zwick», wie er es nennt, von seinem Vorgänger, der 25 Jahre lang Mesmer war.

Geschützt mit Ohrstöpseln und zusätzlich mit dem Gehörschutz der Armee muss er erst sein volles Gewicht reinlegen, bis er den Rhythmus gefunden hat. Dazu sagt Spadin: «Danach spüre ich sofort, wann ich wieder am langen Seil ziehen muss. Der Abstand wird regelmässig.» Fünf Minuten vor und fünf Minuten nach Mitternacht ist er von Hand an der Arbeit. Das Vollgeläut wird per Knopfdruck betätigt.

Nebst dieser Tradition, die er sehr zu schätzen weiss, dürfen auch jedes Jahr interessierte Leute in den Kirchturm kommen. Vor drei Jahren etwa hatte laut Hans Krüsi ein ehemaliger Lüüterbueb die Ehre, die Glocke nochmals zu läuten. Ein gewagtes Unterfangen, da der Glockenbegeisterte mittlerweile an die 90 Jahre alt ist und diverse schmale sowie steile Treppen erklimmen musste. Obwohl er vor Anstrengung schwitzte, war ihm die Freude und Ehre deutlich ins Gesicht geschrieben. Den Dankesbrief des ehemaligen Lüüterbuebs und dessen Familie hat Krüsi in seinen Akten aufbewahrt.

 

Die Glockenserie geht mit diesem Artikel zu Ende. Wir hoffen, mit dem Einblick in die Vielfalt der Thurgauer Glockenwelt zusätzliches Interesse für das Glockengeläut geweckt zu haben. Ein grosser Dank geht an all die Personen, die sich Zeit für ein Gespräch und ein Foto genommen haben. Ein besonders grosser Dank geht an Hans Jürg Gnehm, der mit seinem enormen Wissen und seinen Fachkenntnissen dem einen oder der anderen Schreibenden wertvolle Informationen geliefert hat. Der Dank gilt auch den Lesenden, die sich mit ihren persönlichen Glockengeschichten gemeldet haben.

 

AUSLEGUNG: «LUCAS MARKUS MATHEUS IOHANNES ANNO DNI MCCCLXII»

Auf der zweitältesten datierten Glocke im Thurgau sind als Inschrift die vier Evangelisten aufgeführt mit der Jahreszahl 1362. Laut Hans Jürg Gnehm kamen die vier Evangelisten als Inschrift nur selten vor. Im Mittelalter sahen die Glocken spartanisch, ja karg aus, und es war nicht üblich, eine Glocke mit mehr Inschriften oder gar Verzierungen auszuschmücken. Als Grund kann angenommen werden, dass viele Leute damals nicht lesen konnten.

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