«Jetzt weiss ich nicht, wohin mit mir»

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04.05.2020
Das Corona-Virus trifft Geschäfte, Schulen und die Freizeitindustrie. Doch wie steht es mit jenen am Rande der Gesellschaft? Das Virus stellt auch das Leben der Obdachlosen und Drogenabhängigen auf den Kopf. Eine Reportage aus Bern.

Es ist eng für ihn, das ganze Jahr über. Thomas, 36, aufgewachsen in Thun und seit zwanzig Jahren süchtig, lebt in Bern auf der Strasse, er übernachtet in Notschlafstellen, dann und wann kommt er bei Bekannten unter. Doch die wurden mit der Zeit immer weniger, die Sucht hat auch ihren sozialen Preis: Freunde, die einen vergessen oder die man selbst im Stich lässt, weil die Droge das Leben bestimmt, den Job, den man verliert, die Familie, die sich abwendet.

Doch jetzt, seit Ausbruch der Corona-Pandemie, wird es für Menschen wie Thomas, die am Rande der Gesellschaft leben, noch härter. «Es sind bereits weniger Drogen im Umlauf, bald werden die Preise steigen. Woher das Geld nehmen?» Der Beitrag von der Sozialhilfe – 700 Franken im Monat – reicht fürs Überleben nicht aus. Also pumpt Thomas Leute aus der Szene an oder fragt auf der Strasse um Geld.

Doch auch das Betteln zahlt sich in Zeiten von Corona nicht mehr aus. «Wenn man sich über viele Stunden richtig reinhängt, kommt man auf 100, 120 Franken pro Tag, jetzt sind es höchstens noch 40.» Die Strassen sind leer. Und wer unterwegs ist, geht auf Distanz – gerade bei «solchen wie uns», fügt Thomas bitter an.

Angebote reduziert
Das Social Distancing hat noch andere Auswirkungen. Viele Angebote für Obdachlose, Süchtige und Sexarbeiterinnen wurden per Mitte März geschlossen oder massiv reduziert. Um die Abstandsregeln des Bundes einzuhalten, mussten etwa die Notschlafstellen in Bern, Basel und Biel ihre Plätze minimieren; in 4-Bett-Zimmern schläft jetzt nur noch eine Person, in 6-Bett-Zimmern sind es deren zwei.

Hilfe kommt von unterschiedlicher Seite. So stellte die Christoph-Merian-Stiftung 300 000 Franken zur Verfügung, um in Basel Menschen ohne festen Wohnsitz während der Corona-Krise ein Hotel zur Verfügung zu stellen. Und in Biel hat die Stadt ein Pfadfinderlager gemietet, um das reduzierte Angebot der Notschlafstelle vorübergehend zu kompensieren. In Bern dagegen ist der «Sleeper» bisher auf sich selbst gestellt.

Auch die Drogenanlaufstelle in Bern musste Massnahmen treffen. Können in deren Räumlichkeiten üblicherweise 22 Personen aufs Mal ihre Drogen konsumieren, sind es jetzt noch 11; die übrigen müssen draussen warten. Auch Thomas kommt jeden Tag hierher. «Die Menschenschlange erzeugt Stress. Wenn es schnell gehen soll, konsumiere ich halt schon draussen auf der Strasse.»

Tagesstrukturen zusammengebrochen
Auch Rahel Gall von der Stiftung Contact, zu der die Anlaufstelle gehört, weiss um den zusätzlichen Druck. Sie ist aber optimistisch, dass sich das Schreckgespenst der 1990er-Jahre – eine offene Drogenszene – nicht wiederholen wird, solange die Anlaufstellen ihren Betrieb nicht einstellen müssen.

Dass Obdachlose, Süchtige oder Sexarbeiterinnen noch mehr Zeit als sonst auf der Gasse verbringen, hat auch damit zu tun, dass seit Ausbruch der Corona-Pandemie ihre Tagesstruktur weitgehend zusammengebrochen ist. «Vorher ging ich für ein paar Stunden in die ‹La Prairie›, da konnte ich etwas zu Mittag essen, und später ins ‹Casa Marcello›, wo ich meine Kumpel traf. Jetzt hocke ich nur noch rum oder fahre Tram und weiss nicht wohin mit mir», sagt Thomas.

Tatsächlich mussten viele Orte, an denen sich Thomas und die anderen tagsüber aufhalten, geschlossen werden. Wie etwa das «Tischlein deck dich», von dem in der Schweiz jede Woche 20 000 Personen profitieren. Weil der Sicherheitsabstand bei der Essensausgabe nicht gewahrt werden konnte und viele freiwillige Helferinnen und Helfer infolge ihres Alters selber zur Risikogruppe gehören, musste die Tafel ihren Betrieb vorübergehend einstellen.

Kirche lanciert Hilfsprojekt
Zwar versuchen Organisationen aus der Zivilgesellschaft diese Lücken zu füllen – die kirchliche Gassenarbeit in Bern etwa, indem sie unkompliziert Essen in öffentlich zugänglichen Kühlschränken lagert. Doch ist diese Hilfe, soll sie unkompliziert und direkt erfolgen, auf finanzielle Unterstützung angewiesen. Deshalb lancierte die katholische Kirche in der Region Bern Ende März eine beispiellose Aktion: Innert kurzer Zeit beschloss sie eine Soforthilfe in Höhe einer Million Franken. Ein Grossteil des Geldes kommt sozialen Institutionen zugute, die sich für Armutsbetroffene und andere Personen am Rande der Gesellschaft einsetzen, 200 000 Franken wurden in Einkaufsgutscheine umgewandelt.

Thomas weiss um die Solidarität vieler Menschen gerade in diesen schwierigen Zeiten, und natürlich ist er froh um jede Hilfe. Doch er ist auch misstrauisch. «Jetzt, da die Strassen leer sind, werden Leute wie ich wieder sichtbarer. Doch was ist, wenn alles wieder normal ist? Werdet ihr dann noch an uns denken?»

Klaus Petrus, Text und Bild, kirchenbote-online

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