Kunst ohne Museum
«Denn wir haben hier keine bleibende Stadt, sondern die zukünftige suchen wir. » (Hebräer 13,14)
Grosse Städte gehören zu meinen liebsten Aufenthaltsorten. Egal ob Berlin, Chicago oder Zürich – ich bin gern in den Strassen unterwegs. Ich mag die Städte, weil sie gross sind. Zu gross, um überwacht zu werden, zu gross, um hübsch aufgeräumt zu sein. Und ich merke: Diese Städte machen etwas mit mir. Sie nehmen mich auf, lassen mich Anteil haben an ihrem Leben. Ich tauche ein inihren Groove. Ich mag die Städte, weil an ihren Wänden Kunst passiert. Abseits von den Galerien und Museen arbeiten dort Künstlerinnen und Künstler. Heimlich. Am Haus gegenüber. Eine Street-Art-Künstlerin hat über Nacht das Leben, die Politik oder die sozialen Verhältnisse der Stadt kommentiert. Wow! Ich schaue und habe plötzlich Anteil an einem öffentlichen Austausch, der vielschichtig und vielgestaltig geschieht.
Street-Art schärft die Sinne
Die Künstlerin Swoon zum Beispiel versteht die Wände der Stadt als «öffentliche Resonanzböden», welche die Themen der Menschen lauter zum Klingen bringen. Im Kunstwerk «Recovery Diaspora» in New York macht sie einen Heilungsprozess sichtbar, der in den Familien und Quartieren einsetzte, nachdem ein Hurrikan viele Todesopfer in der Stadt gefordert hatte. Das Wandgemälde zeigt die Verletzlichkeit, aber auch die Widerstandsfähigkeit des Lebens. Ich bin überzeugt: Street-Art schärft unsere Wahrnehmung. Für das Leiden und Lieben der Menschen.
Auch Glaube ist subversiv
Street-Art ist keine Kunst, die im Museum aufbewahrt werden will. Sie ist im öffentlichen Raum, veränderbar. Sie ist vorläufig und verweist dadurch auf die Vorläufigkeit unseres menschlichen Daseins. Und genau hier dockt die Kunst an meinen Glauben an. Die subversive Kunst der grossen Städte flüstert mir zu, dass ich mein Leben und meinen Glauben an Gott nicht überwacht und hübsch aufgeräumt und museumsreif zu halten brauche. Künstlerinnen wie Swoon lassen mich erkennen, dass all das, was ich tagtäglich tue, nur vorläufig ist. Aber deshalb nicht weniger wichtig.
Die Kunst an den Wänden der Stadt stiftet mich dazu an, mich nicht mit dem zufriedenzugeben, was wir jetzt haben, sondern die zukünftige Stadt zu suchen. Nicht für immer. Nur für jetzt. Aber dafür mit dem ganzen Herzen.
Text: Katharina Hiller, Pfarrerin, Rapperswil-Jona | Foto: Getty Images – Kirchenbote SG, Januar 2020
Kunst ohne Museum