Lebt wohl, ihr Lieben!

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14.11.2019
Geschichten, die 600 Menschen unter die Haut gingen: Stefan Weiller hat in der Olma-Halle St. Gallen sein Projekt «Letzte Lieder und die Welt steht still» aufgeführt. Dafür hat der Deutsche im Vorfeld Menschen in regionalen Hospizen, Spitälern oder zu Hause besucht und mit den Sterbenden gesprochen. Diese Geschichten erzählte Weiller, gepaart mit Musik und berührte das Publikum.

So geschehen am 12. November, erstmals in der Schweiz. Es war oft still in der Olma-Halle an diesem Abend, trotz über 600 Teilnehmenden. Sie blickten gespannt zur zur Bühne, wo die Schauspieler Christoph Maria Herbst, Samuel Weiss und Ursela Monn sitzen. Dann liest Monn vor: «Aufgewachsen ist sie in Basel. St.Gallen ist ihre geliebte Heimat. Aber wenn die Basler Fasnacht im Fernsehen übertragen wird, dann blitzen die Kindheitserinnerungen auf und erhellen ihr Gemüt wie Laternen im Morgenstreich. Sie spürt dann diese Stimmung, die über Basel liegt. Sie ist ein grundheiterer Mensch. Trotz allem, was sie an Schwerem durchgemacht hat. Als ihr Mann starb zum Beispiel. Sie schweigt für einen Moment. Wenn gar nichts mehr geht, Musik geht immer. Sie knipst sie an und dann sind die Erinnerungen da. 

 

Sterbehilfe ist gut, Lebenshilfe besser 
Emmentaler, das ist ein Industriekäse für Deutsche. Das Beste daran sind die Löcher. Kaufen Sie lieber einen Appenzeller. Ich bin einmal in meinem Leben geflogen und kann alle nur warnen. Während des 2-stündigen Fluges habe ich fünfmal erbrochen. Da habe ich beschlossen, die Schweiz nie mehr fliegend zu verlassen. In meiner Familie wird erbrochen. Meine Söhne, als sie klein waren, bei jeder Fahrt. Wir hatten versäumt, ihnen zu sagen, dass sie nicht gegen die Windrichtung brechen sollen. Was hat das Kind geweint mit all dem Appenzeller im Haar. Das Auto haben wir stundenlang geputzt. Der Geruch blieb bis Weihnachten. Ach, waren das schöne Zeiten mit den Kindern, auch wenn sie nur erbrochen haben. Sterbehilfe finde ich gut. Lebenshilfe noch besser. Und wir Schweizer haben ja zum Glück die Wahl.»

 

Der Knabe, der bald sterben muss 
Die Geschichte der Baslerin, die in St.Gallen sterben wird, war nur eine der 21 Geschichten, die die drei Schauspieler vorlasen, am Vorabend des St. Galler Demenz-Kongresses. Es handelte sich um die Aufführung des deutschen Projekts «Letzte Lieder und die Welt steht still» - an diesem Abend zum ersten Mal in der Schweiz. Dafür hat Initiator Stefan Weiller mehrere Menschen in regionalen Hospizen, Spitälern oder zu Hause besucht. Er sprach mit den Sterbenden über das Leben und den Tod. Eine Frage lautete: Welche Musik ist Ihnen kostbar und was verbinden Sie damit? 

 

Zuhören, stundenlang
«Manchmal höre ich den Menschen zwei bis drei Stunden zu, lausche ihren Erinnerungen und schreibe daraus die Geschichten», so Weiller. Die Geschichten dieses Abends gingen den Zuhörenden unter die Haut. Es wurde gelacht, getanzt und gesungen. Aber es wurde auch geweint. Zum Beispiel wegen Ole, der kleine Junge, der bald sterben wird, der sich den Himmel mit grünen Sternen ausmalt und keine Ahnung vom Tod hat. Nur die Eltern quälen immer wieder dieselben Fragen: Warum Ole? Warum wir? Während Menschen in die Taschentücher schnäuzten, erklang im Saal das Lied «Weisst du, wie viele Sternlein stehen». Gesungen vom Konzertchor St. Gallen, dessen Stimmen an diesem Abend mehrmals mitten ins Herz trafen.

 

Das Desaster beim ersten Rendez-vous
Doch Weiller weiss um die Emotionen der Zuhörenden und sogleich erhellte sich die Stimmung wieder, als Christoph Maria Herbst die Geschichte von einem Mann erzählte, der bei seinem ersten Rendez-vous ziemlich gelitten hat. Nicht wegen seiner Angebeteten, sondern wegen ihres Menüs. Es gab Maultaschen, Flädle und saure Kutteln. Sie kochte das extra für ihn, weil er Deutscher ist. Wie er sein Lied hätte betiteln können: «Jedem Böhnchen ein Tönchen». Fluchtartig verabschiedete er sich, um bei seiner Liebsten keine peinliche Aktion erleben zu müssen. Sie aber betrachtete ihn als ausserordentlichen Gentleman, weil er ging, ohne gleich beim ersten Treffen Sex haben zu wollen. Dass er darauf hoffte, verschwieg er natürlich. Der Wunsch erübrigte sich ohnehin mit dem Menü. Später heirateten sie. Es ertönte das Lied: «O Jesu, o Meister, zu helfen, zu dir» von J. S. Bach.

 

Keine Trauerfeier
Weiller versprach, dass der Abend alles andere als eine Trauerfeier werde. Und er behielt auch in St.Gallen recht. Die Teilnehmerinnen und Teilnehmer im Saal tanzten zwischen tiefer Berührung und Heiterkeit hin und her – wie die Geschichten selbst. Das Leben wurde gefeiert, wie er es mit den letzten Liedern in vielen deutschen Städten beabsichtigte und auch in St.Gallen  erreichte. 

 

Nachdenklich
Nachdenklich, sicherlich aber auch mit einer etwas anderen Sicht auf das Leben und den Tod verliessen die Menschen den Saal. Im Hinterkopf wohl noch die letzten Worte dieses Abends, ein Auszug einer Geschichte von einer weiteren Person, die im Sterben lag: «Hast du Angst vor dem Tod?», fragte mich meine Freundin. Darauf antwortete ich: «Ich bin glücklich, dass ich lebe und neugierig auf das, was kommt. Und sterben müssen wir doch alle. Deshalb ist es nicht so sehr die Frage, wie wir sterben, sondern wie wir leben. Und wenn die Besucher aus der Tür gehen, verabschiede ich sie mit einem alten Gruss: Lebt wohl ihr Lieben.»

 

 

Text und Bilder: Basil Höneisen  – Kirchenbote SG, 14. November 2019

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