«Leck mich, ich gehe auf die Strasse»

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19.10.2020
Hans Peter Meier war einst ein reicher Mann. Heute hält er sich mit dem Verkauf von Surprise-Magazinen über Wasser und bietet soziale Stadtführungen an. Er ist überzeugt: Freiheit ist mehr wert als Geld.

«Ich arbeitete in der IT-Branche und verdiente viel Geld», erzählt Hans Peter Meier aus seinem Leben. Er betreute eine Software, mit der Banken ihren Börsenhandel betreiben. Doch der berufliche Erfolg hatte seinen Preis. Meier musste 16 Stunden am Tag arbeiten und begann zu trinken, um den Druck auszuhalten. 2003 verlor er seine Stelle. «Ich war vom Stress so erschöpft, dass ich zuerst mehrere Monate verreiste.»

Zwei Wochen ohne Essen

Meier kennt keine Tabus, als er einer zwan- zigköpfigen Gruppe Zürich aus Sicht von Ob- dachlosen zeigt. «Ihr dürft mich alles fragen», stellt er zu Beginn der Führung klar. Später hilft er gleich selbst nach: «Ihr könntet mich zum Beispiel fragen, ob ich Drogen genommen habe», sagt er vor dem Automaten, an dem Süchtige Spritzen und Hygieneartikel herauslassen können. «Als Jugendlicher habe ich gekifft, später LSD genommen. Aber zum Glück kein Heroin und kein Kokain, denn ich bin stark suchtgefährdet.» Nur vom Alkohol habe er die Finger leider nicht gelassen.

Als Hans Peter Meier von der Reise zurückkehrte, hatte er keine Wohnung, keine Arbeit. «So bin ich irgendwann auf der Strasse gelan- det, und da ich noch nicht wusste, wo man etwas zu essen kriegt, ass ich zwei Wochen lang gar nichts.» Dann fand er den Weg in eine Gassenküche. «Dort erfuhr ich in Kürze, wo man gratis etwas zu essen kriegt.»

Obdachlose schlafen in der Kirche

Die Tour beginnt bei einem Büro der Stadt Zürich, das Obdachlosen hilft, von der Strasse wegzukommen. Dort muss man nachweisen, fünf Nächte auf Stadtgebiet verbracht zu haben. «Das ist gar nicht so einfach, wenn man obdachlos ist», gibt Meier zu bedenken. Danach müsse man eine Menge Formulare ausfüllen und Dokumente einreichen: Bank- belege, Scheidungsurkunde, Ausweise. «Aber wer jahrelang auf der Strasse gelebt hat, hat diese Papiere nicht zur Hand.» Für viele Ob- dachlose seien Behördengänge schwierig. «Die denken dann: ‹Leck mich, ich gehe zurück auf die Strasse.›»

«Ihr könntet mich zum Beispiel fragen, ob ich Drogen genommen habe.»

Im Verlauf der Tour fällt auf, wie stark sich Kirchen für Bedürftige einsetzen: In der reformierten Kirche besuchen mehr als zwei- hundert Migrantinnen und Migranten gratis Deutschkurse, kochen und essen gemeinsam. Ein paar hundert Meter weiter lässt die Methodistische Kirche Obdachlose nach warmer Mahlzeit und Dusche in der Kirche übernachten. Und die von Pfarrer Ernst Sieber gegründeten Sozialwerke sind aus der Stadt nicht wegzudenken.

Vor elf Jahren hörte Meier auf zu trinken. Er verdient heute seinen Lebensunterhalt selbst, durch den Surprise-Verkauf und die Stadtführungen. «Ich bin nicht reich», sagt er, aber es reiche zum Leben. «Dafür habe ich viele Freiheiten. Das ist mehr wert als das viele Geld, das ich früher verdient habe.»

Text: Stefan Degen | Foto: Marc Bachmann – Kirchenbote SG, November 2020

 

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