Lernen wir nur aus Katastrophen?

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17.12.2018
Franz Hohler hat die Sensibilisierung für ökologische Themen in der Schweiz seit Jahrzehnten verfolgt und mitgeprägt. Als Schriftsteller und Kabarettist, aber auch in öffentlichen Vorträgen und Debatten belebt er unterhaltsam und mit klaren Gedanken die Auseinandersetzung. Haben wir als Gesellschaft die Energie für eine Klimawende?

«Das ist nicht die Frage», sagt Hohler. «Wir haben Energie. Wir müssen sie nur aufwenden. Man sieht bei jeder Katastrophe, wie viel Energie zur Hilfe aufgewendet wird. Der Bergsturz 2017 in Bondo, Graubünden, ist ein konkretes Beispiel.»

Erstaunlich ist, dass erst Katastrophen uns in Bewegung setzen, jedoch frühe Warnungen gerne überhört werden. «Wir sind vor allem an der Erhaltung unseres gegenwärtigen Zustands interessiert. Wir sind geneigt, alles so zu interpretieren, dass dieser Status quo nicht gefährdet wird. Man will eine Klimaveränderung lange nicht wahrhaben. Wir verharren in der Normalität, solange es geht», gibt Hohler zu bedenken. «Es geht uns zwar gut, aber passt auf: Die Sommer werden heisser!»

 «Bis sich eine Erkenntnis durchsetzt, braucht es Zeit und Katastrophen.»

Eine Abwandlung des Klimas ist nicht neu. Wir leben in einer ausgehenden Eiszeit. Die Stadt St. Gallen liegt in einem Tal, das von
einem Gletscher ausgeschliffen wurde. Der Bodensee – einst Gletscherbecken – wurde längst zum Planschbecken. Beunruhigend ist nicht ein Klimawandel an sich, sondern die Beschleunigung der Änderungen, die massgeblich vom Menschen verursacht wird. Der Klimawechsel entwickelt eine Eigendynamik, die nicht nur weltweit spürbar wird, sondern im Schnelltempo unseren Lebensraum beeinflusst. Bringen wir uns selbst um?

Gesellschaftliches Aufwachen
Vor etwa 15 Jahren wurde die Schweiz noch als «Wasserschloss Europas» bezeichnet und Schweiz Tourismus erklärte das Jahr 2012 zum «Jahr des Wassers». Von dieser Euphorie ist wenig übrig geblieben. Die Gletscher schmelzen im Rekordtempo. Der Temperaturanstieg in der Schweiz ist mit 2 °C mehr als doppelt so hoch wie der weltweite Mittelwert (0,9 °C) seit Messbeginn 1864. Setzt sich diese Entwicklung fort, dann wird die Schweiz in wenigen Jahrzehnten ein Klima wie auf dem Balkan haben. Anhaltende Wärme taut den Permafrost in den Bergen auf, wodurch Gesteinsschichten instabil werden. Bergstürze und Murgänge (Schlammlawinen) sind die Folgen. Bei diesem Szenario stehen der Schweiz gravierende Änderungen bevor.

«Bis sich eine Erkenntnis wie die des Klimawandels, in der Gesellschaft durchsetzt, braucht es oft viel Zeit – und Katastrophen», meint Hohler, der in der Zeit der Wasserverschmutzung aufgewachsen ist. «Damals gab es Fälle von Lähmungen, nachdem Kinder in den Flüssen gebadet hatten. Erst diese Fälle bewirkten ein gesellschaftliches Aufwachen und lösten Veränderungen aus.» 

«Was jetzt passiert, ist noch zu wenig. Die Zeit läuft uns davon.» 

Ähnlich sei es auch mit dem Protest gegen Atomkraftwerke gegangen. Die Gegner seien zuerst als «linke Spinner» abgetan und Initiativen versenkt worden. Bei der Atomkatastrophe in Tschernobyl 1986 habe man sich eingeredet, dass die Russen mit «alten» Atomkraftwerken arbeiteten, so Hohler. 

Der Kalte Krieg herrschte noch und der Eiserne Vorhang verhüllte so manche Information aus dem Osten. Die Bedeutung des Unfalls wurde heruntergespielt. Hohler sieht jedoch, dass sich die Wahrnehmung heute ändert. «Bei der Atomkatastrophe in
Fukushima 2011 war es anders. Japan ist ein hochtechnologisiertes Land. Dass sich dort eine derartige Katastrophe ereignen konnte, hatte eine stärkere Wirkung als Tschernobyl. Fukushima bewirkte einen Wandel. Die Katastrophe war für den Bundesrat Startschuss zum schrittweisen Ausstieg aus der Atomenergie.» Im Gespräch reiht sich Beispiel an Beispiel. «Was jetzt passiert, ist noch zu wenig», sagt der Aktivist. «Die Zeit läuft uns davon.»

 

Wenn Fakten nicht überzeugen
Als Schriftsteller verfügt Franz Hohler über ganz andere Mittel zur Kommunikation als Klimaexperten und Politiker. Sein Metier ist die Sprache. Fakten allein überzeugen selten. Deshalb erzählt er Geschichten, wie beispielsweise «Der Verkäufer und der Elch». In dieser Fabel versucht ein Verkäufer, einem Elch eine Gasmaske zu verkaufen. Das Thema Umweltverschmutzung wird in der Erzählung neu verpackt und so dem Leser nahegebracht. In seinem Roman «Der neue Berg» beschreibt Franz Hohler, wie in der Nähe von Zürich ein Vulkan ausbricht. «Wie wird das wahrgenommen? Will man es wahrhaben? Oder verschliesst man die Augen vor der nahenden Katastrophe?» Franz Hohler erreicht mit seiner ganz eigenen Sprache eine breite Öffentlichkeit. Mühelos bewegt er sich zwischen politischem Engagement und kreativem Schreiben. Als Erzähler verwandelt er die Erkenntnisse statistischer Auswertungen in packende Geschichten. Er macht für unsere Ohren verständlich, was Wissenschaftler zum Klimawandel erkannt haben.

Poesie kann Denkanstösse vermitteln.

1972 veröffentlichte der Club of Rome die erste Umweltstudie «Die Grenzen des Wachstums». Im Jahr darauf schrieb Franz Hohler eine Ballade, worin eine Verkettung kleiner Ereignisse bis zum Weltuntergang führt. «Wenn ich diese Ballade des Weltuntergangs heute einer Schulklasse vorlese und anschliessend frage, wann dieser Text geschrieben wurde, antworten mir die Schüler, der Text sei vielleicht vor zwei oder drei Jahren entstanden.Tatsächlich ist der Text über 40 Jahre alt», erzählt Hohler, der bereits 75 Jahre jung ist. «Poesie kann Denkanstösse auf andere Art vermitteln als die Wissenschaft. Der Text ist immer noch aktuell.» Es sind diese kreativen Ansätze, die zu einer differenzierten Auseinandersetzung anregen.

Der optimistische Pessimist
Jetzt kommt es auf die Umsetzung an. «Wir verbrauchen zu viel Energie bei unserem derzeitigen Lebensstandard», sagt Hohler. Dann verweist er auf den ETH-Professor Anton Gunzinger, der mit dem Buch «Kraftwerk Schweiz» Lösungen aufzeigt, wie die Schweiz ihren Energieverbrauch bei gleichbleibendem Lebensstandard drastisch reduzieren könnte (Siehe auch Kasten: Weitere Informationen). «Sehr ermutigend. Es sind auch neue gesellschaftliche Entwürfe, die hier entstehen.»

Was prägt Hohlers Motivation für sein Engagement? Ist es der drohende Weltuntergang? Oder sind es positive Entwicklungen? «Wenn man den Weltuntergang verkündigt, hofft man, dass es gelingt, eine Wende zu erreichen», sagt er. «Ich wünsche mir, das wir unser Leben so gestalten können, dass wir unsere Welt nicht zerstören. Dazu muss man die Augen offen haben. Ich bin ein optimistischer Pessimist.» 

 

 

Text: Karsten Risseeuw | Fotos: Jürg Steinmann  – Kirchenbote SG, Januar 2019

 

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