«Man muss nicht alles lesen und auch nicht alles verstehen»

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11.03.2020
Ulf Becker bietet einen Bibel-Lesekurs an. Der Pfarrer aus Reiden ist überzeugt, es gibt viele spannende Geschichten in der Bibel, die aus dem prallen Leben gegriffen sind. Man muss nur einen Anfang finden.

Ulf Becker, wie kamen Sie auf die Idee, ein Bibel-Leseseminar auszuschreiben?
Eine Frau aus dem Kirchenvorstand ermutigte mich, nachdem sie gesehen hatte, wie ich Schülern die Bibel erkläre. Ihr gefiel mein Stil und sie meinte, ich müsse dieses Angebot unbedingt einer grösseren Öffentlichkeit zugänglich machen.

Warum wird die Bibel heute nur noch selten zur Hand genommen?
Die Bibel an sich ist unverdaulich. Sie ist wie ein Lexikon oder Telefonbuch. Man schaut sich einzelne Stellen an, liest sie aber nicht von vorne bis hinten durch und hat dann alles verstanden. Sie ist kein Roman. Das sind 1200 Seiten heftige Kost. Manchmal kommt man vorwärts, manchmal nicht, manchmal überblättert man ein paar Seiten und macht an einer anderen Stelle weiter. Es geht darum, einen Anfang zu wagen, damit die Bibel nicht irgendwann im Altpapier landet.

Liegt das Desinteresse vielleicht auch daran, dass manche Bibelstellen dem Zeitgeist widersprechen?
Die Bibel wird häufig mit Stellen in Verbindung gebracht, die provozieren, etwa die Stellung der Frau oder die «richtige» Art von Sexualität. Diese Geschichten sind aber nur ein ganz, ganz kleiner Teil. Es gibt noch viele andere spannende Geschichten in der Bibel, die völlig unbekannt und aus dem prallen Leben gegriffen sind.

Zum Beispiel?
Mir sind die Psalmen je länger je mehr ans Herz gewachsen. Da ist Lebenserfahrung dahinter, da sprechen Menschen, die etwas mit Gott erlebt haben, denen er geholfen hat. Im gesamten Alten Testament menschelt es. Es geht um den Umgang miteinander, um Streitigkeiten und Versöhnung, um Scheitern und Aufstehen. 

Die Bibel ist also aktueller denn je?
Genau. Die Bibel ist vergleichbar mit den Zeitungen, die man beim Zahnarzt oder dem Friseur liest, wo das Leben mit all seinen Höhen und Tiefen drin ist.

Was ist Ihre Empfehlung, um ins Bibellesen reinzukommen?
Man muss eine Bibel finden, die man gerne in die Hand nimmt. Die Bibel ist wie ein Kleidungsstück. Was wir nicht gerne anziehen, bleibt im Schrank oder wird weggeworfen. In meinem Kurs stelle ich eine Auswahl Bibeln zur Verfügung, die ich die Menschen anfassen lasse. Das Papier muss stimmen, die Schriftgrösse, die Aufteilung, die Sprache.

Welches ist Ihre Lieblingsbibel?
Im Moment begleitet mich die neue Einheitsübersetzung. Der Text spricht mich an. Und mir kommt entgegen, dass sie grosse Buchstaben hat.

Und wie liest man nun die Bibel am besten?
Es geht in erster Linie darum, einfach mal anzufangen zu lesen und das Gelesene wirken zu lassen. Man muss nicht gleich alles richtig verstehen. Wie man liest, ist individuell. Manche lesen die Bibel von hinten nach vorn. Andere suchen sich Themen aus wie Versöhnung, Freundschaft und suchen sich die Stellen dazu, die Zeugnis davon abliefern. Dafür sind Bibellesepläne hilfreich. Sie finden sich meist auf den Einführungsseiten der Bibel oder im Internet. Bibellesepläne geben Empfehlungen ab, wo man einsteigen könnte oder thematisch etwas zu bestimmten Themen findet.

Kann man die Bibel überhaupt alleine lesen?
Es geht nicht in erster Linie um das richtige Verständnis des Inhalts. Sondern darum, Lust zu haben, einmal reinzulesen. Man muss nicht alles lesen und man muss auch nicht alles verstehen. Die Diskussion über den Inhalt kommt in meinem Kurs erst ganz zum Schluss.

Was empfehlen Sie einem Lese-Anfänger, das Alte oder das Neue Testament?
Menschen, die gerne Geschichten lesen, in denen Gott mit Menschen unterwegs ist, empfehle ich das Alte Testament. Da sind alle Höhen und Tiefen drinnen, da wird heiss geliebt und bis aufs Blut gekämpft. Wenn man etwas über Jesus erfahren möchte und vielleicht nicht das, was man in der Kirche hört, empfehle ich das Neue Testament.

Könnte der strafende Gott im Alten Testament nicht manch einen abschrecken?
Im Alten Testament wird ein Gott mit sehr menschlichen Zügen gezeichnet. Er kann intensiv lieben, er tut Menschen Gutes, er rettet sie. Ist er hingegen zornig, raucht und donnert es. Das ist ein Gott, den ich spüre. Der Gott im Neuen Testament ist weiter weg, den spürt man nicht. Im Alten Testament ist ein Gott, an dem ich mich reiben kann.

Carmen Schirm-Gasser, kirchenbote-online.ch, 11. März 2020

Bibel-Lesekurs: 12. und 19. März, 19.30 bis 21.30 Uhr, Kirchgemeindesaal, reformierte Kirche Reiden

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