Megatrend Gesundheit – Ein kritischer Blick

min
16.08.2019
«Es kommt darauf an, den Körper mit der Seele und die Seele durch den Körper zu heilen.» Dieses Zitat von Oscar Wilde versucht zu erklären, was Menschen gesund hält. Dies gelingt ihm aber nur bedingt.

Der Mensch hat nebst dem Körper und der Gefühlswelt auch einen Geist, also kognitive Fähigkeiten. Zudem ist er eingebettet in Lebensumstände und in ein soziales Umfeld. Wilde ging es mit seiner Aussage wohl eher darum, aufzuzeigen, dass für die Gesundheit des Menschen nicht nur das körperliche Wohlbefinden verantwortlich ist und dass es Wechselwirkungen gibt. Heute würde man von einem systemischen Ansatz sprechen. Diesen verfolgt auch die Positive Psychologie, deren wissenschaftliche Erkenntnisse über die Ursachen des guten Lebens Grundlagen dieses Artikels sind.

Pülverchen, Tabletten, Früchte …
Auch ich kann mich dem aktuell herrschenden Gesundheitswahn kaum entziehen. Verpasse ich eine meiner zwei bis drei Sporteinheiten pro Woche, sehe ich die Unzulänglichkeiten meines Körpers in übertriebener Gestalt. Und mein kleiner Küchentisch ist mit Vitaminpräparaten, Nahrungsergänzungsmitteln und einer grossen Früchteschale belegt. Die Tabletten und Pülverchen reichen meist monatelang, weil ich sie immer wieder zu nehmen vergesse und die Früchte darben oft genug ungesehen vor sich hin – Strafe dafür ist ein schlechtes Gewissen und das Gefühl, zu wenig Gutes für meine Gesundheit getan zu haben.

«Wieso ist uns alles, was mit Gesundheit zu tun hat, so unglaublich wichtig geworden?»

Als ob das nicht schon genug wäre, fragt mich heute Morgen meine Büronachbarin, ob ich in den Yoga-Kurs mitkomme – ein Trend, den ich nie recht verstanden habe, welcher mich aber daran erinnert, dass ich nach dem Joggen immer das Stretching vergesse!

Warum ist uns dies so wichtig?
Wieso ist uns alles, was mit Gesundheit zu tun hat, so unglaublich wichtig geworden? Viele Menschen glauben, dass ein glückliches Leben von guter Gesundheit abhängt. Das stimmt. Aber nur, wenn man krank ist. Studien der Glücksforschung zeigen eindeutig, dass Menschen, nur weil sie sich bewusst sind, gesund zu sein, ihr Wohlbefinden nicht steigern können. Kranke Menschen erleben auch nur kurzfristig, nämlich solange Schmerzen und starkes Unwohlsein vorherrschen, eine tiefere Lebenszufriedenheit als gewohnt. Wenn das Fieber abgeklungen ist, lässt es sich zu Hause auf der Couch ganz gut leben. Selbst nach schweren Unfällen oder Krankheiten mit bleibenden Beeinträchtigungen wandeln sich relativ schnell die negativen Gefühle wieder, und unser Glücksniveau nähert sich dem genetisch vorgegebenen an. Dies gilt allerdings nicht für Schwerstbehinderungen oder Krankheiten, die chronischen Schmerz auslösen. 

Zum Erfolgsindikator geworden
In einer von Leistung dominierten Welt ist auch die Gesundheit zu einem Indikator für ein erfolgreiches Leben geworden. Dies ist höchst problematisch, sind wir Menschen doch sehr verschieden. Nicht alle werden glücklich mit intensiver sportlicher Betätigung oder genauem Abwägen, was und wie viel man isst. Zudem sind wir mit unterschiedlichem genetischem Material ausgestattet.

«Genetische Voraussetzungen haben zur Hälfte Einfluss aufs Wohlbefinden und sind nicht beeinflussbar.»

Die amerikanische Psychologin Sonja Lyubomirsky konnte 2009 mit einer grossen Metastudie aufzeigen, wie das persönliche Glücksempfinden von den anlagebedingten Voraussetzungen, von äusseren Lebensumständen und von aktiven Denk- und Handlungsmustern abhängt. Die meist völlig überschätzten Lebensumstände wie zum Beispiel materieller Wohlstand, Bildung, Gesundheitszustand, Rasse, Alter, Wohnort etc. tragen demnach bei Menschen westlicher Nationen nur um die zehn Prozent zum persönlichen Wohlbefinden bei. Genetische Voraussetzungen haben mit 50 Prozent den höchsten Einfluss und sind nicht beeinflussbar. Zu einem erheblichen Anteil ist es also Glückssache, ob ich ein gesundes oder eher kränkliches Naturell habe. Natürlich kann ich durch vernünftige Lebensgewohnheiten Einfluss auf die Gesundheit nehmen, aber weniger, als wir gemeinhin denken. 

Irrglaube hält sich hartnäckig
Der Irrglaube, Gesundheit mache glücklich, hält sich aber hartnäckig in der Bevölkerung. Das hat auch seine guten Seiten. Viele Handlungen, die vermeintlich der Gesundheit dienlich sind, lösen primär positive Emotionen aus. Diese erweitern nach Studien der Psychologin Barbara Fredrickson unser Denk- und Handlungsspektrum und wir können eher unser Potenzial ausschöpfen, was wiederum zu positiven Emotionen führt. Menschen, die mehr in guten Gefühlszuständen unterwegs sind, haben ein stärkeres Immunsystem und werden dadurch weniger krank. So schliesst sich der Kreis.  

«Gläubige Menschen haben durchaus einen Vorteil, da Religionen Hoffnung vermitteln.»

Positive Erfahrungen können wir vor allem über unsere Denkhaltungen und Verhaltensweisen steuern. Und dies macht 40 Prozent des Glücksempfindens aus. Hier gilt es, für ein gutes Leben anzusetzen. Das richtige Denken über unsere Vergangenheit hilft uns, dankbarer zu werden und Menschen zu verzeihen oder Stolz über Erreichtes zu empfinden. Massgeblich fürs Denken in die Zukunft ist es, eine hoffnungsvoll optimistische Haltung einzunehmen und vertrauensvoll durchs Leben zu gehen. Gläubige Menschen haben hier durchaus einen Vorteil, da Religionen, nebst den geschenkten sozialen Kontakten, Hoffnung vermitteln. 

Sich belohnen wirkt
In der Gegenwart wird zwischen Genuss- und Belohnungshandlungen unterschieden. Belohnungshandlungen haben den stärkeren Effekt. Beispiele sind das Lesen eines spannenden Textes, Hobbys erlernen, Pläne erstellen oder vielschichtige Diskussionen führen. Sie werden häufiger im Berufsalltag erlebt, wo wir eher gezwungen sind, uns auf anspruchsvolle Aufgaben zu fokussieren als in der Freizeit. Genusshandlungen anzustreben ist ebenfalls sinnvoll, da sie schnell zu positiven Emotionen führen. Allerdings nur, wenn wir uns dem Moment hingeben können: Geniessen Sie also voller Freude im Sommer die Schoggi-Glace oder atmen Sie im Winter tiefenentspannt die Düfte in der Sauna ein.

Mit sich im Reinen sein 
Der Gesundheit am meisten zuträglich ist, mit sich selbst im Reinen zu sein, sich so zu akzeptieren, wie man ist. Dann wird es auch leichter fallen, möglichst viele positive Gefühle zu erleben. Selbstbestimmt zu leben, mich freudig einer Aufgabe zu widmen, gut gelaunte Mitmenschen zu treffen, anderen zu helfen oder über die Natur zu staunen, das stärkt uns mehr als jedes Multivitaminpräparat. Sind wir dann doch einmal krank, gilt es, dies anzunehmen und kürzerzutreten. Gesundheit können wir nur wirklich schätzen, wenn wir ab und zu Kranksein erleben. Für mich, den ein Männerschnupfen schon in eine existenzielle Krise wirft, ist dies eine harte Lektion. 

«Unsere lebenslange Aufgabe ist es, dafür zu sorgen, dass positive Momente überwiegen.»

Für den deutschen Philosophen Wilhelm Schmid ist das höchste Glück, die Polaritäten des Lebens akzeptieren zu lernen. Zu Erfolg gehört auch Misserfolg, zu Freude Trübsinn, zu Lust Langeweile. Unsere lebenslange Aufgabe ist es, dafür zu sorgen, dass die positiven Momente überwiegen – und dazu wünsche ich Ihnen viel Glück! 

 

Text: Sigmar Willi, St. Gallen | Fotos: Pixabay / Genossenschaft Baumwipfelpfad  – Kirchenbote SG, September 2019

 

Unsere Empfehlungen

«Ich bin eine begeisterte Reformierte!» (1)

Rita Famos, Präsidentin der Evangelischen Kirchen Schweiz (EKS) verriet am Podiumsgespräch in Teufen, was sie motiviert und was ihr schlaflose Nächte bereitet. Seit 2021 ist sie die Frau an der Spitze der EKS. Sie stellte sich kürzlich den Fragen von Pfarrerin Andrea Anker und jenen aus dem ...

Ihr Sohn gibt ihr Kraft (1)

Vor zwei Jahren verlor Iryna Roshchyna ihren Mann, vor einem Jahr musste die Ukrainerin Hals über Kopf mit ihrem knapp zweijährigen Sohn in die Schweiz flüchten. Mittlerweile hat die Köchin eine Stelle gefunden und im Rheintal Fuss gefasst. Bei ukrainischen Crèpes mit Lachs und Apfel erzählt sie ...
Ihr Sohn gibt ihr Kraft

Ihr Sohn gibt ihr Kraft

Vor zwei Jahren verlor Iryna Roshchyna ihren Mann, vor einem Jahr musste die Ukrainerin Hals über Kopf mit ihrem knapp zweijährigen Sohn in die Schweiz flüchten. Mittlerweile hat die Köchin im Rheintal Fuss gefasst. Bei ukrainischen Crèpes mit Lachs und Apfel erzählt sie aus ihrem bewegten Leben.