Nicht Retrospektive, sondern Perspektive

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06.01.2017
Beim Zürcher Auftakt zum Reformationsjubiläum am 5. Januar war viel Prominenz anwesend. Gemeinsamer Nenner: Die Bedeutung der Reformation für Politik und Gesellschaft von heute.

Im Frieren waren sie alle vereint: Bundesrat und Regierungsrätin, Kirchenpräsident und Stadtpräsidentin, Polizistin und Chorknabe harrten zusammen mit rund 200 Interessierten am Donnerstagabend geduldig bei eisigem Westwind auf dem Zwingliplatz aus und lauschten diversen Ansprachen. Bis endlich die Glocken läuteten und das Konterfei des Zürcher Reformators an Hauswänden und dem gegenüberliegenden Turm von St. Peter aufpoppte.

Kein Zweifel: In Zürich hat das Reformationsjubiläum begonnen. Und es wird nicht nur dieses Jahr gefeiert. Denn Zwingli trat sein Amt am Grossmünster am 1. Januar 1519 an, und deshalb wird es in Zürich bis Anfang 2019 Anlässe zum Reformationsjubiläum geben.

Die Rolle des Rückspiegels
Dabei gehe es nicht um eine «Retrospektive», so SEK-Ratspräsident Gottfried Locher vor den Medien. Es gehe darum, «mit dem reformatorischen Erfahrungsschatz eine Perspektive für unsere Kirche, unsere Gesellschaft und unser Land zu schaffen». Es sei wie beim Autofahren: «Es lohnt sich, in den Rückspiegel zu schauen, wenn man unfallfrei fahren will.»

Kirche, Gesellschaft, Staat: Alle sind durch das Geschehen von vor 500 Jahren geprägt worden. Auch in Zürich. «Ohne die Reformation wären Stadt und Kanton Zürich nicht dasselbe, was sie heute sind», so Kirchenratspräsident Michel Müller. Deshalb haben Kirche, Stadt und Kanton sowie Zürich Tourismus den Verein «500 Jahre Zürcher Reformation» gegründet, der in den nächsten Monaten für den «weltlichen Teil» der Feierlichkeiten sorgen soll. Theater, Konzerte, Ausstellungen sind geplant. Das genaue Programm wird noch bekanntgegeben.

«Kirche war immer schon politisch»
Politik und Gesellschaft verdanken der Reformation viel, und so war einiges an politischer Prominenz auf dem Platz: Neben Müller und Locher ergriffen auch Bundesrat Johann Schneider-Ammann, Regierungsrätin Jacqueline Fehr, Stadtpräsidentin Corinne Mauch das Wort. Für Schneider-Ammann, mit Locher Co-Präsident des Patronatskomitees für das Jubiläum, lag der Akzent auf dem durch die Reformation aufgekommenen Gedanken der Freiheit des Individuums. Die von den Reformatoren geforderte Gewissensfreiheit in Glaubensbelangen habe zur Idee der Selbstverantwortung geführt, das eigenständige Denken zu einem neuen Wissensdurst. Dieser habe Innovation ermöglich und sei so zum «Zündstoff unserer Freiheit und unseres Wohlstands» geworden.

Corine Mauch legte dagegen den Schwerpunkt auf die soziale Dimension der Zürcher Reformation. Zum Beispiel bei der Neuorganisation der Armenspeisung. Mit dem «Mushafen» (genannt nach einem grossen Topf mit Hafermus) habe der Rat der Stadt « den Bedürftigen in Zürich täglich ein warmes Essen» gesichert und damit einen zentralen Gedanken der Reformation umgesetzt: «Gottesfürchtig und christlich handeln, das heisst immer auch gerecht sein gegenüber den Armen.»

Die gesellschaftlichen Errungenschaften der Reformation hob auch Locher hervor. Die Pfarrer von damals hätten nicht nur gegen Ablass und päpstlichen Pomp gepredigt, sondern auch gegen die Korruption, den Söldnerdienst, das «eklatante Gefälle zwischen Arm und Reich». Kirche sei schon immer politisch gewesen, so Locher. «Denken Sie daran, wenn wir uns in Dinge einmischen, die uns angeblich nichts angehen.»

Freiheit, aber nicht für alle
Auch kritische Töne waren auf dem Festakt zu hören. Mehrfach wurde die Verfolgung der Täufer erwähnt. Auch die Frauen hätten von der neuen Freiheit eher wenig mitbekommen, so Regierungsrätin Fehr. Sie belegte dies mit einem Bullinger-Zitat: «Die Frau darf das Haus nicht ohne Erlaubnis ihres Mannes verlassen. Sie verlässt das Haus nur, wenn es unvermeidlich ist, etwa zum Einkaufen. Das erledigt sie ohne Umschweife, um eilends wieder heimzukehren. Wie ein Schildkröte, die ihren Kopf nur kurz aus dem Panzer hervorstreckt, wenn sie sich bewegt.»

Ähnlich Gottfried Locher: «Ganz so weit her war es nicht mit der Freiheit im 16. Jahrhundert.» Aber es dürfe auch nicht vergessen werden, was die Reformation tatsächlich an neuer Freiheit mit sich brachte. «Die Sehnsucht nach Befreiung von dem, was uns Menschen drückt und knechtet, hat sich Raum verschafft.» Oder, so Fehr: «Was mit der Übersetzung der Bibel begann, setze sich Jahrhunderte später im Kampf der Aufklärung für Freiheit, Gleichheit und Solidarität sowie die universelle Gültigkeit der Menschenrechte fort. Die Reformation hat den Weg geebnet für den Übergang von der feudalen zur demokratischen Staatsordnung.»

Reformation verpflichtet
Aber, sagte Locher, diese Freiheit sei in Gefahr, und erinnerte dabei an das Berliner Attentat kurz vor Weihnachten. Freiheit sie keine Selbstverständlichkeit. «Die Reformationsgeschichte verpflichtet, für die Freiheit der anderen einzustehen. Es gilt, die Freiheit, die wir erstritten haben, zu schützen und zu verteidigen», so Locher.

Insgesamt kann man vom Festakt sagen: Viele wichtige Worte, gesprochen auf einem eisigen Platz. Und zum Schluss hatte auch noch die Kunst ihren Teil beizutragen. Mit einer Lichtinstallation von Gerry Hofstetter, dem «Schattenwurf Zwingli», werden ein Jahr lang zum Monatsbeginn Bilder des Reformators auf umliegende Gebäude und Flächen projiziert und vom Grossmünster und der Zwinglistatue an der Wasserkirche aus eine Botschaft verlesen, die anschliessend öffentlich diskutiert wird. Der «Schattenwurf Zwingli» wird später auch an anderen für die Biographie Zwinglis wichtigen Orten zu sehen sein.

Marianne Weymann / ref.ch / 6. Januar 2017

Dieser Artikel stammt aus der Online-Kooperation von «reformiert.», «Interkantonaler Kirchenbote» und «ref.ch».

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