Non-binär hat viele Seiten
Fräulein, Mann, Frau, Stern
Als die Autorin Anna Schindler sich mit 17 Jahren gegen die Bezeichnung «Fräulein» gewehrt hat, wurde sie gefragt, ob sie jetzt auch so eine Emanze sei. Darum ging es aber gar nicht. Sie konnte sich einfach mit der Bezeichnung «Fräulein Schindler» nicht identifizieren. War eine Frau nicht verheiratet oder im Service tätig, war sie ein Fräulein. In der allgemeinen Sprache hingegen galt die männliche Form, da waren alle mitgemeint. 1993 beschloss der Bundesrat die Gleichbehandlung von Frau und Mann in der Gesetzes- und Verwaltungssprache. Erst 1996 gab die Schweizerische Bundeskanzlei einen Leitfaden heraus, in dem darauf hingewiesen wurde, dass das Wort «Fräulein» nicht mehr verwendet werden soll. Sprache entwickelt sich stetig weiter und widerspiegelt gesellschaftliche Veränderungen. Das Fräulein ist verschwunden, der Stern ist dazugekommen. Das Interview mit Joëlle Bachmann gibt Einblick in eine weitere Facette der sprachlichen Auseinandersetzung mit Geschlecht, die auch die Bedürfnisse non-binärer Menschen berücksichtigt.
Joëlle, du gehörst einer Gruppe an, für die auf einem Formular weder Mann noch Frau zutrifft. Was sollte neben dem Kästchen stehen, damit du es ankreuzen kannst?
Den Begriff «Andere» würde ich als gute Option bezeichnen. Dahinter könnte eine Leerzeile sein, auf der ergänzt werden kann.
Kannst du beschreiben, was der Begriff «non-binär» für dich bedeutet?
Ich persönlich definiere mich als non-binär. Das ist eine Unterkategorie, ein Sammelbegriff für verschiedene Geschlechtsidentitäten, die nicht in das binäre System von Mann und Frau passen. Es bedeutet für mich auch, dass das Geschlecht grundsätzlich nicht einfach A oder B ist. Das ist keine fixfertige Schachtel. Das Geschlecht fühlt sich für mich eher wie ein Spektrum an. Mir gefällt das Bild eines Farbkreises sehr gut. Non-binär bedeutet ja nicht zwingend, dass es ein Geschlecht zwischen Mann und Frau sein muss. Der Begriff will sich von starren Definitionen lösen.
Ist das auch so, wenn sich jemand als Trans bezeichnet?
Jein. Trans per Definition ist jemand, der sich nicht mit dem bei der Geburt zugeschriebenen Geschlecht identifizieren kann. Dann gibt es die – ich nenne sie jetzt mal die klassischen Transleute – die zum Beispiel als Frau geboren wurden und sich als Mann fühlen oder umgekehrt und somit dem binären System immer noch entsprechen. Gleichzeitig sind non-binäre Leute auch Trans-Personen. Trans ist eine Art Überbegriff, die Unterbegriffe wären dann zum Beispiel Transfrau, Transmann oder non-binär. Diese Definitionen werden aber in der Community diskutiert, das ist alles im Fluss.
Wenn ich dich anschreibe, wie mache ich das? Liebe oder lieber Joëlle ist unpassend. Welche Pronomen verwendest du für dich?
Ich bevorzuge es, keine Pronomen zu brauchen. Das fühlt sich für mich am stimmigsten an. Das bedeutet aber mehr Aufwand, gerade in der deutschen Sprache. Umgangssprachlich funktioniert es besser. Das Umgehen der geschlechtsbezogenen Formulierung ist eine Möglichkeit. Die andere Möglichkeit ist die Verwendung von Neopronomen oder englischen Pronomen. Ich habe angefangen, Wörter wie «they» oder «them» zu benutzen. Möglich ist auch das deutsche Pronomen «es», das von einigen queeren Menschen bevorzugt wird. Das kann aber auch als dehumanisierend empfunden werden.
Warum ist es so wichtig, dass sich eine inklusive Kommunikation durchsetzt?
In der direkten Kommunikation hat es mit dem Respekt und der Wertschätzung gegenüber anderen Personen zu tun. Ich sieze jemanden auch, wenn es gewünscht ist und respektiere diese Höflichkeitsform unserer Gesellschaft. Das erwarte ich auch bezüglich der für mich stimmigen Geschlechterdefinition. Es hat mit der Anerkennung dessen zu tun, dass es eben Leute wie mich gibt. Aus der biologischen Perspektive gesehen, sind wir Menschen soziale Tiere. Das ausgeschlossen werden aus einer Gruppe hatte in der evolutiven Geschichte verheerende Folgen, die Chancen zu sterben waren deutlich höher. Daher ist das Gefühl, nicht mitgenannt zu werden, unterschwellig sehr stressig. Das trifft auch auf andere Diskriminierungsformen zu. Zu sagen, wir sind doch mitgemeint, ist zu einfach.
Die Geschlechterfrage ist für die jeweilige Situation oft nicht relevant.
In Amerika hat der Präsident das dritte Geschlecht wieder abgeschafft. Hast du schon Ablehnung oder Diskriminierung erfahren?
Ich habe im direkten Kontakt in Bezug auf meine Non-Binarität wenig direkte Diskriminierung erlebt. Aber im Alltag werden mir unangenehme Fragen gestellt. «Bist du jetzt eigentlich ein Mann oder eine Frau? Wenn ich dich so anschaue, sehe ich das nicht.» Oder: «Ist das jetzt non-binär, wie du dich gibst?» Wenn ich dann einen Moment überlege, kommt dann manchmal gleich: «Eben, du weisst es ja selbst nicht.» In solchen Momenten fühle mich nicht respektiert. Muss mein Gegenüber wissen, ob ich ein Mann oder eine Frau bin? Vielleicht könnte sie erst fragen, ob sie mir eine Frage zu dem Thema stellen darf? Das gibt mir je nach Situation die Möglichkeit zu sagen, ich möchte lieber nicht darüber sprechen. Ich weiss, dass ich je nach dem, wie ich mich in der Öffentlichkeit kleide oder verhalte, verwirrend gelesen werde. Manchmal werde ich als Er und manchmal als Sie angesprochen. Ich werde auch beobachtet, so habe ich zum Beispiel einmal im Zug im Abteil hinter mir gehört, wie geflüstert wurde: Ist das jetzt ein Mann oder eine Frau? Das empfinde ich als unsensibel. Das fördert das Gefühl, nicht dazu zu gehören.
Was würdest du dir von Menschen mit Vorurteilen gegenüber dem non-binären Geschlecht wünschen?
Dass ich nicht auf mein Geschlecht reduziert werde, bevor jemand überhaupt nach meinem Namen fragt. Und dass mein Gegenüber es akzeptiert, wenn ich sage, heute habe ich keine Energie, über das Thema zu sprechen. Ich verstehe die Neugierde, die hatte ich zu Anfang ja auch. Aber wenn jede Person Fragen dazu stellt, wird es anstrengend für Menschen, die zu einer Minderheit gehören. Es ist einfach etwas sehr Persönliches. Ich möchte selbst entscheiden, was ich beantworte und was nicht. Dabei ist es für mich wichtig, ob das für die spezifische Situation relevant ist oder nicht. Was meistens nicht der Fall ist.
Das bedeutet, du bist zuerst Joëlle und Biologiestudent*in. Und nicht gleich non-binär und queer. Gibt es noch etwas, das du zum Thema «non-binäres» oder «diverses» Geschlecht sagen oder erklären möchtest?
Wichtig finde ich, sich in Erinnerung zu rufen, dass queere Leute primär einfach Menschen sind. Was und wie über uns geredet wird, sagt mehr über die Leute aus, die darüber reden, als über die Menschen, über die geredet wird.
Wichtig ist auch: Non-binäre Personen sehen nicht so oder so aus und es bedeutet auch nicht, dass non-binäre Leute alle androgyn aussehen. Es ist keine weitere Kategorie, sondern eine Möglichkeit, sich so zu zeigen, wie es für die jeweilige Person stimmt.
Leute, die non-binären Menschen begegnen, die dürfen auch Fehler machen, das ist okay. Was schon viel zählt, dass sich mein Gegenüber Mühe gibt und es versucht.
Joëlle, ich danke dir für das Gespräch und deine Offenheit.
Was heisst non-binär?
Non-binäre Menschen identifizieren sich nicht oder nur teilweise mit einem der beiden binären Geschlechter «weiblich» oder «männlich». Gewisse non-binäre Leute (kurz «Enbys») haben gar keinen Bezug zum Konzept «Geschlecht», einige erleben ihr Geschlecht als eine Mischung aus Weiblichkeit und Männlichkeit, wiederum andere haben ein sich über die Zeit veränderndes Empfinden von Geschlechtlichkeit usw. Non-binäres Geschlecht sagt nur etwas über die Geschlechtsidentität einer Person aus, aber nichts über die Merkmale des Körpers, das Erscheinungsbild, die sexuelle Orientierung oder Geschlechterrollen.
Quelle: https://www.nonbinary.ch/
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