Schritt für Schritt Umbrüche bewältigen – ohne Höllenangst

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26.08.2020
Höllenangst trieb sie. Heute wollen Pilgerinnen und Pilger Spiritualität erleben und Lebensübergänge bewältigen. Ein Grund zum Pilgern ist aber seit dem Mittelalter bestehen geblieben.

Es geht gegen Abend zu. Seit fünf Stunden bin ich unterwegs auf dem Camino Francés zwischen León und Santiago de Compostela. Ich nähere mich der Pilgerherberge. Schon von Weitem höre ich Gespräche und Lachen. Als ich bei der Herberge ankomme, sehe ich unter einer alten Eiche einen langen Tisch. Am Tisch sitzen Pilgerinnen und Pilger und stossen mit einem Glas Wein an. «Setz dich doch zu uns!», ruft einer der Pilger und macht Platz für mich frei. Ich lege meinen Rucksack ab, setze mich auf den freien Platz und bekomme sogleich ein Glas Wein eingeschenkt. 

 Mehr als Unterwegs-Sein
«Was eigentlich macht den Unterschied aus zwischen einer Person, die pilgert, und jener, die wandert?», fragt mich eine ältere Frau, die zum ersten Mal in der Pilgergruppe unterwegs ist. «Der Unterschied», antworte ich, «liegt zum einen in der Motivation. Jeder Wanderweg kann nach reformiertem Verständnis mit der entsprechenden Motivation zum Pilgerweg werden.» Doch da gibt es noch einen Zweiten: Auf den alten Pilgerwegen, wie dem Jakobsweg, waren im Laufe der Jahrhunderte Hunderttausende von Pilgerinnen und Pilgern mit ihren Hoffnungen, Ängsten, Gebeten und Liedern unterwegs. Sie sind die unsichtbaren Begleiterinnen und Begleiter heutiger Pilger. Im Mittelalter taten sie das wegen der vielfältigen Gefahren meist in Gruppen. Sie haben den Weg als spirituellen Weg geprägt. Zeugnis von dieser Pilgerspiritualität geben die verschiedenen Kirchen und Kapellen am Weg, die zur Einkehr einladen.

Wer pilgerte, konnte mit einer spirituellen Reinigung durch Sündenvergebung rechnen. Bei der damaligen Höllenangst war das eine starke Motivation.

Was bringt Menschen dazu, auf einen Pilgerweg aufzubrechen? Im Mittelalter war die Antwort klar. Wer pilgerte, konnte mit einer Art spiritueller Reinigung durch Sündenvergebung rechnen. Bei der damals herrschenden Höllenangst war dies eine starke Motivation, zu pilgern. Pilgern wurde verstanden als Wallfahren zu einem heiligen Ort, der dank der Reliquie eines Heiligen oder einer Heiligen eine besondere Gnadenwirkung hat. In der Schweiz zum Beispiel Einsiedeln mit der Mauritiusreliquie. Beim Jakobsweg ist es der Leichnam Jakobus des Älteren, eines Jüngers Jesu. Er sei nach dem Märtyrertod auf wundersame Weise zum heutigen Standort der Kathedrale von Santiago de Compostela überführt worden. Im 8. Jahrhundert sei er dann auf ebenso wunderbare Weise wiederentdeckt worden, so die Legende.

«Ich bin den Weg gegangen, auf dem ich früher mit meinem verstorbenen Mann unterwegs war. Oft sind mir die Tränen gekommen. Doch ich bin weitergegangen.»

Die Reformatoren haben diese Art von Pilgern, nämlich die Wallfahrt zu heiligen Stätten mit Reliquien, als Werkgerechtigkeit abgelehnt. «Allein Gott kann Sünden vergeben», sagten sie. Eine Pilgerfahrt trage in keiner Weise zur Sündenvergebung bei. Allerdings spielt das Unterwegs-Sein in der Bibel seit jeher eine wichtige Rolle: Elia ist auf dem Weg zum Gottesberg Horeb; die Israeliten sind auf dem Weg ins Gelobte Land; Jesus ist als Wanderprediger heilend und verkündigend durch Galiläa unterwegs.

Was aber motiviert heutige Pilgerinnen und Pilger? Aufgrund meiner Erfahrungen am Pilgerzentrum St. Jakob in Zürich, das ich bis 2016 leitete, sehe ich vier Gründe: Gemeinschaft erfahren, Übergänge bewältigen, Spiritualität erleben, sich überraschen lassen. 

Pilgern verbindet
Als Jakobspilgerin oder als Jakobspilger ist man Teil eines grösseren Ganzen. Man gehört dazu, auch wenn man als Einzelpilger unterwegs ist, wie das eingangs beschriebene Beispiel zeigt. Man macht die Erfahrung, willkommen zu sein. Oft haben wir auf unseren Pilgerreisen unsere Lebensmittel zusammengelegt und gemeinsam das Abendessen gekocht. Sehr gut erinnere ich mich an eine Pilgerherberge, von der aus wir zu fünft im nahen Restaurant essen gegangen sind: eine Koreanerin, eine Deutsche, eine Japanerin, eine Französin und ich. Pilgern verbindet – auch über die Grenzen von Sprache und Mentalität hinweg. Etwas anders sieht die 

Situation beim Gruppenpilgern aus, zum Beispiel beim Tagespilgern des Pilgerzentrums. Viele Pilgerinnen und Pilger sind hier schon seit vielen Jahren miteinander unterwegs. Dadurch ist eine Gemeinschaft entstanden, die trägt.

Übergänge bewältigen
Als ich nach 35 Jahren im Pfarramt pensioniert wurde, sind meine Frau und ich als Erstes zu einer mehrtägigen Pilgerwanderung aufgebrochen. Aus dem Berufsalltag hinauszulaufen, hat mir geholfen, Vergangenes loszulassen. Viele Pilgerinnen und Pilger machen diese Erfahrung. Sie brechen zum Pilgern auf, wenn sich in ihrem Leben Übergänge oder Brüche zeigen: Berufswechsel, Übergang ins Studium, Verlust eines nahen Menschen durch Tod oder Trennung. Oder eben Pensionierung. Eine ältere Frau, deren Mann vor Kurzem gestorben war, erzählte mir, wie wichtig es für sie wurde, auf dem Jakobsweg zu gehen. «Ich bin ein Stück jenes Weges gegangen, auf dem ich vor einigen Jahren mit meinem Mann unterwegs war. Immer wieder habe ich angehalten, mir bewusst gemacht, wie ich den Weg mit meinem Mann damals erlebt habe. Oft sind mir die Tränen gekommen. Doch ich bin weitergegangen. So wurde es mir nach und nach möglich, meinen Mann loszulassen und mich auf die neuen Wege einzustellen, die vor mir liegen.» 

Andacht unter freiem Himmel
Das Pilgern eröffnet Möglichkeiten, Religion als offene Spiritualität zu erleben: Beim Gesang von Taizé-Liedern im Chor einer romanischen Kirche. Beim schweigenden Gehen auf Wegen, deren Ränder voller Wiesenblumen sind. Bei der Andacht unter freiem Himmel. Nach einer Feier sagt ein Teilnehmer zu mir, er habe das Abendmahl ganz anders erlebt als sonst, intensiver. Eine Teilnehmerin fügt hinzu: «Normalerweise singt mein Mann nicht. Diesmal hat er mitgesungen.»

Tourismus schon im Mittelalter
Beim Pilgern läuft nicht alles wie geplant. Die Herberge ist voll? Dann bleibt nichts anderes übrig, als zwei Stunden lang zur nächsten Unterkunft zu laufen. Auch wenn es bereits gegen Abend geht. Und wer pilgert, erlebt Überraschungen. So wie ein Ehepaar in einer Pilgerherberge: Als sie zu Bett gehen wollten, öffnete sich plötzlich die Zimmertür – der Hotelier hatte das Zimmer zweimal vermietet. Beim Pilgern lernt man, Geduld zu haben: mit sich selber, mit andern, mit dem Weg. Neues zu erleben, war übrigens bereits im Mittelalter ein Grund zu pilgern. Pilgern bot die Möglichkeit, der Enge des mittelalterlichen Dorfes oder der Stadt zu entfliehen, war also eine Form von Tourismus. 

www.jakobspilger.ch
www.sprachspiel.ch

 

Text: Andreas Bruderer, Pfarrer, Zürich | Fotos: Christian Schenk, Reformierte Kirche des Kantons Zürich / Pixabay  – Kirchenbote SG, September 2020

 

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