Seelsorge am Rande der Gesellschaft
Als Gefängnis-Pfarrer begleite ich alle Menschen, unabhängig von deren Zugehörigkeit zu einer Konfession oder Religion. Und dies alles geschieht auf freiwilliger, unverbindlicher Basis. Es gibt dort keine Kirchgemeinde – viele sind zuerst einmal distanziert – oftmals wechseln die inhaftierten Menschen nach wenigen Wochen – anhaltende Beziehungen aufzubauen, ist schwierig. Aber: Die Offenheit für Gespräche ist gross.
Ein Ort zum Dampfablassen
Im Gegensatz zu einer «Normalkirchgemeinde» kann ich viel aktiver auf die Menschen zugehen. Es ist räumlich alles überblickbarer und so habe ich bis zu zehn Mal mehr Kontakte als in der Ortskirchgemeinde. Bei den Insassen wird das Gespräch zur Seelsorge sehr geschätzt: Ein Ort zum «Dampfablassen», seine Sorgen zu teilen, ein persönliches Anliegen in einem Gebet zu formulieren oder über «Gott und die Welt» zu diskutieren.
Für mich ist dabei die grundlegende Haltung von Jesus Vorbild: Neben dem direkten Hinweis aus Matthäus 25,36+39 über die Wichtigkeit der Sorge um Gefangene, gibt es eine ganze Reihe von Bibelstellen im Neuen Testament, in denen Jesus «verurteilten» Menschen begegnete, die an den Rand der Gesellschaft gedrängt wurden. Die Einkehr beim verhassten und «kriminellen» Oberzöllner Zachäus (Lukas 19,1-10) war für ihn kein Bruch von gesellschaftlichen Normen, sondern ein Teil von Seelsorge. Jesus fragte Zachäus nicht zuerst nach seinen Taten, sondern er kehrte in sein Haus ein und ass mit ihm. Dadurch eröffnete Jesus einen Beziehungsprozess. Die Veränderung von Menschen und deren persönliches Wachstum ist erwünscht, aber nicht Bedingung. Und für die Insassen wird damit auch das Prinzip «Hoffnung» am Leben erhalten. Sie machen die Erfahrung: Es gibt Menschen, denen ich wichtig bin.
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Wichtige Rolle des Seelsorgegeheimnisses
Das spiegelt schon der Schöpfungsbericht im 1. Mosebuch wider: Jeder Mensch ist ein Geschöpf Gottes und zu ihm hin berufen (1. Mose 1,27). Daran kann alle menschliche Unzulänglichkeit nichts verändern. Die Zusage der Liebe Gottes und eine grundsätzlich positive Wertschätzung des Einzelnen zieht sich durch die ganze Bibel. Diese bedingungslose Annahme ist unabhängig von Vergangenheit und Tat. Hier spielt auch das Seelsorgegeheimnis eine grosse Rolle. Die generelle Überwachung ist aufgehoben. Dies ist in der Welt des Gefängnisses ein grosser Schutz und Freiraum.
Gefängnisseelsorge hat oft mit Menschen zu tun, die in ihrer Biografie und Persönlichkeit Brüche aufweisen, mit psychisch Gefährdeten oder Erkrankten. Diese Menschen sind ein Spiegel unserer Gesellschaft. Denn diese Menschen sind wie Sie und ich: Leute mit sympathischen und mit abschreckenden Seiten. Viele von ihnen haben weniger Glück gehabt als ich. Sie haben weniger Liebe erfahren, weniger Wohlwollen, weniger Förderung, weniger Chancen. Sie wurden an den Rand gedrängt, sind straffällig geworden. Und sie konfrontieren uns nun mit den Kehrseiten unserer Gesellschaft, mit den Abgründen der menschlichen Freiheit.
Versöhnung und Neubeginn?
Darum verdichten sich an diesem Ort eine ganze Reihe fundamentaler Grundfragen: Was ist der Mensch, wenn er nicht «anständig» und angepasst lebt, nicht schön und erfolgreich ist? Was ist mit unseren Irrwegen und unserem Versagen? Und was ist mit all den Tragödien, mit den Abgründen unseres Denkens, Fühlens und Handelns? Was ist mit dem Leid, das Menschen einander antun? Wie gehen wir mit unserer Schuld um? Gibt es Versöhnung und Neubeginn? Und wo ist Gott? Wo bleiben seine Zuwendung und Vergebung?
Gnade ist nicht billig zu haben
Der Kern des Evangeliums heisst GNADE. Dieses alte und fremd gewordene Wort meint nichts anderes als die heilende und unverdiente Zuwendung von Gott zu uns Menschen. Der Theologe Dietrich Bonhoeffer hat dabei klar betont, dass diese Gnade keine billige ist. Unsere Schuld soll nicht klein geredet werden. Ja, Gott vergibt, aber er befreit nicht von den Folgen der Taten. Er lässt Menschen leben und lässt sie neu anfangen, beladen mit der Last ihrer Un-Tat. Auch im Strafvollzug stehen Menschen unter der Gnade Gottes. Die kann nicht erst in den Blick kommen für den Fall, wenn ein Täter nicht mehr als Risiko für die Gesellschaft eingeschätzt wird. Gnade gilt von dem Tag an, an dem ein Täter verhaftet und ins Gefängnis gebracht wird. Als Seelsorger bin ich bei denen, die gescheitert sind. Und ich versuche sie als Menschen zu sehen - nicht nur als Täter - als Menschen, die wie wir alle auf Liebe und Gnade angewiesen sind.
Seelsorge am Rande der Gesellschaft