Sich der Säkularisierung stellen
Die freie Reichsstadt St. Gallen hat sich schon 1526 fĂĽr die Reformation entschieden, musste jedoch nach dem Tod Zwinglis 1531 das Galluskloster wiederherstellen. Dort residierte der FĂĽrstabt ĂĽber seine Ländereien rund um St. Gallen bis zum Einzug der französischen Truppen 1798. Weil der FĂĽrstabt seine politische Verantwortung nicht abgeben wollte, wurde das Kloster aufgelöst, und grosse Teile der Klostergebäude gingen an den 1803 gegrĂĽndeten Kanton St. Gallen.Â
Trennung von Kirche und Staat
Eine neue Zeit brach an. Kirche und Staat begannen sich mehr und mehr zu trennen. Der Staat ĂĽbernahm das Personenregister wie auch das Schulwesen und förderte fortan eine moderne Weltsicht, in der Gott keine Rolle spielte. Die Niederlassungsfreiheit ermöglichte, dass Katholiken sich in der Stadt und Protestanten im FĂĽrstenland niederlassen konnten. Die Industrialisierung bestärkte die Konfessionsvermischung.Â
Fusion zu Gross-St. Gallen 1918
Die reformierte Stadtkirche fĂĽhrte Pfarrstellen fĂĽr die Zentrumskirchen St. Laurenzen und St. Mangen und je eine fĂĽr St. Leonhard im Westen und LinsebĂĽhl im Osten. Dort wurden die Kirchen aber bald zu klein, um die wachsende Zahl an Evangelischen in den politischen Gemeinden westlich und östlich der Stadt zu betreuen. Darum wurden die alte Kirche St. Leonhard 1887 und die LinsebĂĽhlkirche 1897 durch grössere ersetzt. Aber nur wenige Jahre später entstanden im Westen und Osten eigene Kirchgemeinden: 1902 Straubenzell St. Gallen West und 1906 St. Gallen Tablat mit je eigenen Kirchen.Â
«Die drei städtischen Kirchgemeinden erinnern bis heute an die Grenzen der alten
reformierten Stadtrepublik.»
Damit vollzog sich bei den Protestanten eine gegenläufige Entwicklung zur politischen Stadtvereinigung von 1918, als sich die damals noch selbständigen politischen Gemeinden St. Gallen, Straubenzell und Tablat zu «Gross-St. Gallen» zusammengeschlossen hatten. Die drei städtischen Kirchgemeinden erinnern darum bis heute an die Grenzen der alten reformierten Stadtrepublik.Â
Die Entwicklung zu Gross-St. Gallen hatte sich angebahnt. Die Kantonshauptstadt brauchte Land, die Vorortsgemeinden Geld. Mit der Stadtvereinigung von 1918 wurde St. Gallen plötzlich zu einer mehrheitlich katholischen Stadt. Im Stadtrat war noch ein Evangelischer. Um den Zusammenhalt der Protestanten zu fördern, wurde am 15. September 1919 von Persönlichkeiten aus den drei Kirchgemeinden die «Freie protestantische Vereinigung St. Gallen» gegründet.
Richtungsstreite ĂĽberwinden
Der Verein sollte der inneren Zersplitterung der Protestanten entgegenwirken, nicht nur geographisch. Denn in Bezug auf Predigtstellen, kirchliche Blätter, Vorsteherschaften usw. war man entweder «liberal», das heisst eher wissenschaftlich orientiert, oder «positiv», treu dem Bibelwort folgend. Dabei schien der Blick auf die brennenden Fragen nach dem Ersten Weltkrieg verloren zu gehen. Es wurden damals globale und soziale Fragen diskutiert wie Völkerbund, Gewerkschaften, Altersversicherung, Pazifismus usw. Als 1919 eine «Evangelische Volkspartei der Schweiz» entstand, suchten der religiös-liberale Verein wie auch die positiv Gesinnten das Gespräch. Man war sich einig: Der Protestantismus sollte sich nicht durch eine neue Partei zur Geltung bringen, sondern vielmehr durch das Wirken Einzelner in den schon bestehenden Parteien und Institutionen. Der Verein hatte demnach ein Forum zu bieten, wo ĂĽber die Kirchgemeinden und ĂĽber theologische Richtungskämpfe hinaus nach der Bedeutung und Mission des Protestantismus fĂĽr die Gegenwart gefragt wird.Â
«Der Verein hatte anfänglich auch Zweigstellen im Kanton.»
Die Vereinigung begann mit 332 Mitgliedern, erreichte 1926 mit 1648 Mitgliedern ihren Höhepunkt und zählt heute noch rund 350 Mitglieder. Der Verein hatte anfänglich auch Zweigstellen in Flawil, Wil, Oberuzwil und Rorschach, auch Berichterstatter fĂĽr die Presse im Toggenburg und Rheintal. In den 1920er-Jahren wurden acht Schriften ediert.Â
100 Jahre Theologiegeschichte
GefĂĽhrt wurde die Vereinigung durch eine «Grosse Kommission», in der sich Persönlichkeiten aus allen drei Kirchgemeinden trafen. Da wurden kirchenpolitische und theologische Fragen diskutiert und darĂĽber gestritten, wer zu einem Vortrag eingeladen werden sollte. Anstelle eines Pazifisten, der den Zivildienst forderte, wurde 1921 Oberstkorpskommandant Wildbolz aus Bern eingeladen. Der Vortrag des religiös-sozialen Leonhard Ragaz ĂĽber «Religion und Demokratie» fĂĽhrte 1926 zu Austritten. Unter den Eingeladenen finden sich Namen wie Albert Schweitzer, Adolf Schlatter, Hermann Kutter und mehrmals Karl Barth und Emil Brunner.Â
Neben den Vorträgen organisiert der Verein seit 1924 auch eine gesamtstädtische Reformationsfeier am Montag nach dem Reformationssonntag. Diese Manifestationen des St. Galler Protestantismus fanden bis in die 70er-Jahre in der Tonhalle statt, begleitet von den vereinigten Kirchenchören der drei städtischen Kirchgemeinden. Â
Buch, Website und YouTube-Kanal
Zum 50-Jahr-Jubiläum der Vereinigung erschien 1969 eine Schrift des damaligen Präsidenten Hans Martin StĂĽckelberger. Darin sind alle eingeladenen Experten aus Theologie, Politik und Wissenschaft aufgefĂĽhrt.Â
Ein eigenes Kapitel wird der «Aera Henry Tschudy 1935–1952» gewidmet. Unter der Führung des umtriebigen Verlegers wurden in der Kriegszeit die «Schriften-Lese-Abende» eingeführt. Man las gemeinsam Zwingli, Calvin, Luther, Barth und sogar den katholischen Katechismus. 1945 hat die Vereinigung die schweizweit erste Eheberatung errichtet, die 2020 ihr 75-Jahr-Jubiläum feiert. Auch
eigentliche Debatten zu Wissenschaft und Glaube hat Henry Tschudy organisiert und dokumentiert. Ein Verzeichnis der Veranstaltungen bis in die Gegenwart findet sich auf der Website des Vereins, der sich seit dem Jahr 2000 Evangelisch-reformiertes Forum St. Gallen nennt.Â
«Auf der Suche nach dem evangelischen Profil»
Seit den Vorträgen im Jahr 2014/15 über Kirchenmusik im Westen und im Orient präsentiert das Forum seine Veranstaltungen auch auf seinem Youtube-Kanal. Dort ist auch der Vortrag «St. Gallen – eine Stadt sucht ihr evangelisches Profil» zu finden, welcher im Rahmen der Stadtgeschichte im Januar 2019 im St. Galler Stadthaus der Ortsbürger stattgefunden hat.
Am Montag, 4. November, 18.30 Uhr, feiert das Forum im St. Galler KGH St. Mangen mit einem Vortrag von Andreas Schwendener sein Jubiläum.
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Text und Fotos: Andreas Schwendener, Pfarrer, St. Gallen – Kirchenbote SG, September 2019
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Sich der Säkularisierung stellen