Sie hüten Geheimnisse und erzählen Geschichten
Viele meiner Kindheitserinnerungen ranken sich um Steine. Kieselsteine als Spielfiguren. Die buckelige «Bsetzi» vor dem Haus, die jeden Samstag gewischt und regelmässig gejätet wurde. Die riesigen Steine in der Sitter, welche uns beim Baden als Sonnenliegen dienten. Die bunten Steine im Flussbett, die meine Bewunderung weckten, leider jedoch ihre intensiven Farben verloren, sobald sie trocken waren.
Erinnerungsstein
Die unterschiedlichen Grabsteine auf Friedhöfen weckten ebenfalls meine Bewunderung. Der zierliche, weisse Marmorstein auf dem Grab einer jungen Mutter und die glänzend geschliffenen, dunklen, rötlichen oder grünen Steine, teilweise mit Glimmer darin und goldenen Buchstaben darauf, gefielen mir in der Kindheit besonders gut. Ich fand sie edel, wertvoll und perfekt. Heute sind es die ungeschliffenen, nicht zu grossen Grabsteine, die mir gefallen. Mit ihrer unregelmässigen Oberfläche und der natürlichen Form symbolisieren sie für mich das Leben mit Ecken und Kanten, Höhen und Tiefen, Licht und Schatten, die zu jedem Menschenleben gehören.
Felsgestein
Doch auch Felswände lassen mich immer wieder staunen: Der Nagelfluh, der aussieht, als hätten Menschenhände viele verschiedene kleine Steine mit Sand zusammengeklebt; die braunrote Felswand oberhalb von Vitznau am Vierwaldstättersee, an der den ganzen Sommer über eine grosse Schweizerfahne prangt; der Creux du Van, jene gewaltige Felsenarena an der Grenze zwischen den Kantonen Neuenburg und Waadt, deren 160 Meter hohe, senkrechte Felswände einen tiefen Talkessel umgeben; und natürlich unser Säntismassiv mit den deutlich erkennbaren unterschiedlichen Gesteinsarten, Schichten und Faltungen, die von der Entstehung des Alpsteins vor Millionen von Jahren erzählen.
Freudenstein
Eine besondere Bedeutung bekamen Steine während der Coronazeit. Menschen begannen, Steine zu bemalen, mit Lebensweisheiten oder humorvollen Worten zu beschriften und diese auf Spaziergängen irgendwo abzulegen. Teilweise entstanden richtige Kunstwerke, oft auch Kinderzeichnungen. Wer einen solchen Stein entdeckte, durfte ihn behalten, an einem anderen Ort platzieren, liegenlassen oder fotografieren und auf einer speziellen Internetseite zeigen. Für viele Menschen wurden diese Steine kleine Mutmacher, Freudenbringer und Glücksteine, ob beim Malen oder Finden. Sie schafften eine Verbindung zwischen Unbekannten, in einer Zeit, in der persönliche Begegnungen eingeschränkt waren.
Egal ob Felsen, Kiesel-, Grab- oder buntbemalte Steine: Stumm sind sie auf keinen Fall.
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