Stadt geniessen - Land lieben
Wie formulierte es meine Schwester vor mehr als vier Jahrzehnten mit einem Schmunzeln: «Ich werde nie an einem Ort leben, wo es kein öffentliches Kopiergerät gibt.» Damals war ein solches im Bahnhof St.Gallen zu finden. Dreimal dürfen Sie, liebe Lesende, raten, wohin meine Schwester zog. Die Stadt hat also mehr zu bieten als das Land? So sang es Toni Vescoli: «Si heisst Susann, wohnt uf em Land, … . Doch ire stinkts, si möcht i d Stadt. … . Dänn uf em Land isch doch nüt los. Dött i de Stadt, dött würt's dänn Grooss. Wänn logisch denksch, dänn gseesch es ii, wennd echli tough und in wettsch sii». Ganz dieser Meinung zog ich nach Kloten. Das war städtischer als Walzenhausen. Und ja, ich genoss das Kino vis-à-vis, welches gleichzeitig als Bühne für Künstler galt. Und wenn ich die Disco beim Flughafen besuchte, musste ich nicht wie in Walzenhausen in frühmorgendlicher Stunde auf dem Bähnli-Gleis, in der Dunkelheit die Mittelschiene als Leitlinie verwendend, steil hinauf nach Hause marschieren. Auch wurden ab diesem Zeitpunkt keine Jeans mehr von «Charreschmieri» der Geleise verschandelt.
Stadtgenuss auf Zeit
Die Nähe zu Zürich war ebenfalls fantastisch. Dort lief meiner Meinung nach beinahe rund um die Uhr etwas. Plötzlich war der Tag mit 24 Stunden zu kurz. Wollte ich an allem teilnehmen, was mich interessierte und alles bestaunen, was es zum Beispiel in Museen und Kirchen zu geniessen gab, hätte ich wohl Jahre in Kloten bleiben müssen. Ich lebte im Raum Zürich in der Zeit, als Toni Vescoli seine «Susann» herausbrachte. Immer wieder wurde ich deshalb gefragt, warum ich in urbanes Gebiet gezogen war, denn es herrschte ja gerade der Trend «Landluft», wie am Ende des Liedes beschrieben: «Er säit, los Spädi, es isch so wiit. Min grööschte Wunsch erfüllt sich hüt. I vierzää Tag chunnsch du no drus, ziemer zwei in es Puurehus. Dänn i de Stadt isch nüt me los. Dött uf em Land, dött würd′s dänn grooss, denn… !»
Bald stellte ich fest, dass, wann immer ich einen Garten oder Blumen vor den Fenstern von Häusern sah, ich Heimweh nach dem Landleben bekam. Auch Hühner, Kaninchen oder Schafe und Kühe lösten solche Gefühle bei mir aus. Also kehrte ich zurück ins Appenzellerland. Nun waren Städtetrips gefragt. Nach etlichen Reisen bemerkte ich, dass ich in Städten oft an Kopfweh litt. Es war für mich zu hektisch geworden. Ganz ausgeprägt war es in Las Vegas. Dort konnte ich Elektrizität nicht nur sehen, sondern eklatant riechen und gar schmecken. Das war mir dann doch zu gleissend, zu glitzernd. Doch für drei, vier Tage einfach nur den Rausch von Eindrücken im Sekundentakt geniessen, das ist nach wie vor ein Genuss.
Spannende Stadt-Teildurchquerungen
Um der Hektik etwas entgegenzusetzen, habe ich es mir zur Gewohnheit gemacht, Städte im wahrsten Sinn des Wortes zu durchqueren, indem ich mir zwei Punkte suche und so gradlinig von A nach B wandere. Ohne Fotoapparat, ohne Schmuck, mit alter ausgefranster Kleidung, teils mit Edelweisshemd und Geld im Hosensack. So unauffällig wie möglich. Ausser durch Brooklyn ist mir jeder Tagesmarsch bisher bestens gelungen. Nicht die ganzen Diagonalen, dafür hätte ich Tage gebraucht, aber während jeweils eines Tages. Das war für mich immer einer der Höhepunkte bei Stadtbesuchen. Ich erlebte stets einen Querschnitt des Lebens und hatte so manche hochinteressante Begegnung mit Menschen, Tieren und Bauwerken. Ja, wie schon erwähnt, nur in Brooklyn wurde ich von einem sehr netten, aber sehr konsequenten Polizisten zur nächsten Metrostation begleitet mit der Anweisung, aus Sicherheitsgründen nicht weiter in den Norden zu marschieren.
Stadt geniessen - Land lieben