St.Gallen Kanton der Glocken

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02.02.2011
Der Kanton St.Gallen besitzt­ eine äusserst reichhaltige Glockenlandschaft und in Berneck wohl das weltweit kräftigste Dorfgeläut. Eine Mischung verschiedener Faktoren hat dazu beigetragen: wenig Kriege, eine hohe Glockenkultur, konfessionelles Wetteifern, weitläufige Gemeinden und der zunehmende Wohlstand im 20. Jahrhundert.

Menschen werden seit biblischen Zeiten gezählt und regis­triert, mit der aktuellen Volkszählung auch in der Schweiz. Anders ist es mit den Glocken, sie werden in der Schweiz erst seit Kurzem durch kantonale und städtische Denkmalpflegen inventarisiert. In deren Auftrag ist Hans Jürg Gnehm, der einzige Bundesexperte für Glocken, teilamtlich seit Jahren unterwegs auf Kirchtürmen, zuerst im Kanton Thurgau, später in der ganzen Ostschweiz und darüber hinaus, um jede Glocke und jedes Geläut so gut wie möglich zu erfassen: wie sie klingen, wie sie aussehen, welche Botschaft sie vermitteln, wer sie gegossen hat, wie sie aufgehängt sind usw. 

Schwere Geläute

Nun hatte mir Hans Jürg Gnehm während einer Stunde mit Respekt und Feingefühl von verschiedenen Kirchengeläuten im Kanton St.Gallen erzählt: Von der wunderschönen, 1859 in Konstanz gegossenen, grossen St. Laurenzenglocke und dem gut erhaltenen Barockgeläut der Kathedrale nebenan; von der reformierten Kirche in Wittenbach aus dem Jahr 1949, die mit Glocken von 1797, 1504, 1500 sowie 1457 ein sehr eigenwilliges Geläut besitzt alles Geschenke aus alten paritätischen Kirchen der Ostschweiz; von den Glocken der Kirche Grossacker in St.Gallen, welche die Bilder der Reformatoren Vadian, Luther, Zwingli und Calvin tragen; von dem historischen Geläut der katholischen, ehemals paritätischen Kirche Altstätten, wo einige Glocken verkünden, dass sie «auf Kosten beider Confessionen» bzw. «Religionen» gegossen wurden; von dem zehn Tonnen schweren, rein harmonischen Geläut der reformierten Kirche in Buchs; von den Glocken in Sax, die mit den Jahrgängen 1514, 1520 und 1576 teils aus vorreformatorischer Zeit stammen wie auch eine Glocke in der reformierten Kirche Wildhaus; von katholisch Walenstadt, wo zehn Glocken im Turm hängen; von den Glocken der kleinen Bühlkirche in Wesen, die nur von Hand geläutet werden können; von dem kräftigen C-Dur-Geläut der reformierten Kirche Gossau, das mit jenem der katholischen Andreaskirche dem zweitschwersten der Schweiz harmonisch zusammenklingt und noch von vielen weiteren Glocken aus dem Kanton wusste Hans Jürg Gnehm zu erzählen, bis meine Aufmerksamkeit nachliess.

Ein festliche Geläut

Doch nun kam der Glockenexperte auf das Geläut der evangelischen Kirche in Rorschach zu sprechen: «Das ist ein ungemein festliches Geläut, rein harmonisch in den Klängen F, A, C und F, der Melodie «Vom Aufgang der Sonne». Die grösste Glocke mit immerhin 8137 Kilogramm schwingt im tiefen F-Dur, wie das Geläut des Doms von Dijon in Frankreich »,  zudem habe diese Glocke einen sehr eigenwilligen Glockenspruch. Damit erregte der Experte meine Aufmerksamkeit. Ich war gespannt, was diese Glocke auszeichnet, die an Grösse alle andern Glocken der reformierten St.Galler Kirchenlandschaft übertrifft. «In evangelischen Kirchen finden wir in der Regel Bibelzitate als Glockensprüche», erklärte Hans Jürg Gnehm. Die Glocken würden so die biblische Botschaft ins Land hinaustragen. Die grösste Glocke trage als Spruch oft das Jeremiazitat «Land, Land, höre des Herren Wort», die kleine das Jesuswort «Lasset die Kinder zu mir kommen». In alter Zeit aber hätten Glocken oft Sprüche in der Ich-Form getragen. «Auf Kosten der evangelischen Gemeinde allhier zu Sant Margretha hat mich gegossen Iacob Grasmair in Feldkirch im Jahr 1805», war z.B. auf der grossen Glocke des nach Feldkirch verschenkten alten Geläuts von St.Margrethen zu lesen. Und einen solchen Spruch in Ich-Form hätten die evangelischen Rorschacher 1904 auch ihrer grössten Glocke verliehen. Die Glocke sagt von sich:


«Ich trage Vadiani Namen,
zu loben Jesum Christum. Amen.»


In diesen Ich-Bezeichnungen sieht Hans Jürg Gnehm einen Hinweis darauf, dass Glocken früher als eigene Persönlichkeiten wahrgenommen worden sind und in gewisser Weise kann er diese Empfindung nachvollziehen: «Jede Glocke ist einzigartig, man kann nicht zwei gleiche Glocken giessen, da der Giesser nie alles im Griff hat». Zum Glück, sagt Gnehm, denn der Nachhall und die Intensität der Teiltöne ergäben sich beim Guss aus kaum kontrollierbaren Faktoren; sie seien eine Überraschung, in der die Glocke ihr Wesen kundtue und zeige, wer sie sein will.»

Die evangelische Kirchgemeinde Rorschach wurde erst 1854 gegründet. Neue Verkehrsverbindungen, insbesondere der Eisenbahnbau, förderten die Industrialisierung. Dadurch hatten immer mehr evangelische Familien in Rorschach und Umgebung Wohnsitz genommen. 1904 wurde die alte Kirche abgebrochen und die heutige, burgähnliche Kirche eingeweiht. Für die grosszügige Glockenstube des massigen Vierungsturms besorgten die Rorschacher ein ebenso ehrwürdiges wie repräsentatives, tontiefes Akkord-Geläut. Der Guss der vier Glocken war damals ein Höhepunkt in der Geschichte der Aarauer Glockengiesserei Rüetschi, die hiermit das bis dahin schwerste einheitliche Gesamtgeläut der Schweiz geliefert hatte. Auch bis heute hat kein jüngeres reformiertes Geläut des Landes diese Tontiefe erreicht.

Mit Schweizer Wappen

In der Schweiz, speziell im Kanton St.Gallen, finden sich erstaunlich reichhaltige Glockenlandschaften. Hier haben viele alte Glocken überlebt, wie etwa zwei um 1265 gegossene in Matt GL oder die 1291 gegossene in Wagenhausen TG. Die Schweiz wurde durch die Jahrhunderte von Kriegswirren weitgehend verschont, während in umliegenden Ländern viele Glocken der Waffenproduktion zum Opfer fielen. In der Schweiz hingegen konnte sich Glockengeläut als Zeichen des Friedens wie auch des nationalen Zusammenhalts etablieren, was sich teils auch im Schmuck der Glocken zeigt. So trägt die grösste, 1934 gegossene Glocke der reformierten Kirche Buchs ein von Zweigen umkränztes Schweizer Wappen. Gerade in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts vermischte sich der Glockenklang mit nationalen Gefühlen, besungen in vielen Ansprachen und Gedichten. 

Ausgeprägte Glockenkultur

Die ausgeprägte Glockenkultur im Kanton St.Gallen hat aber auch mit dem Verhältnis zwischen Protestanten und Katholiken zu tun. Zum einen sind da die aufstrebenden Diasporagemeinden im Fürstenland und im Süden des Kantons. Die im 19. Jahrhundert zugezogenen Reformierten waren oft Träger der Industrialisierung. Sie brachten einen gewissen Reichtum in die Gegend und zeigten mit einem entsprechenden Geläut, dass auch sie Gott kräftig loben und verkünden können. Anders als in ursprünglich katholischen Kantonen, wo in Einzelfällen reformierte Kirchen bis heute aus Rücksicht auf die katholische Mehrheit keine Glocken haben, waren die Reformierten im St.Gallerland selbstbewusst genug, mit kräftigem Geläut ihre Präsenz zu zeigen und in der Regel wurde das von den Katholiken auch akzeptiert. Als die Reformierten von Bütschwil-Mosnang im März 1907 ihre vier Glocken auf einem festlich geschmückten Wagen durch Bütschwil zur ihrer Kirche führten, geschah dies «unter freundlichen Begrüssungsklängen ihrer Schwestern auf dem katholischen Kirchturm».

Paritätische Kirchen

Wiederum anders war es in den traditionell paritätischen Kirchgemeinden im Rheintal und im Toggenburg. Seit der ­Reformation teilten sich hier Reformierte und Katholiken je dieselbe Kirche, wie das heute nur noch in Thal, Oberhelfenschwil und Mogelsberg der Fall ist. In allen andern Gemeinden wurde in den letzten 150 Jahren die Parität aufgelöst, und die ­eine oder andere Konfession errichtete eine neue Kirche was die Glockengiesser erfreut haben mag. Die 1874 in Staad gegründete Glockengiesserei war bis 1940 mit Aufträgen aus der Ostschweiz ausgelastet einer der letzten grossen Aufträge war das fünfstimmige F-Geläut der katholischen Kirche von Berneck, mit dem es eine besondere Bewandtnis hat ist doch diese F-Glocke mit 8759 Kilogramm nach der Münsterglocke von Bern die zweitschwerste Glocke der Schweiz. Sie ist so gross, dass sie eigentlich nicht in den schlanken Kirchturm passt. Wenn sie läutet, müssen die Läden geöffnet werden, da sie sonst vom Klöppel zerschlagen würden. Auch musste der Turm mit Eisenkonstruktionen verstärkt werden, damit er das schwere Geläut tragen kann. Und auch so darf die grosse Glocke nur selten erklingen, um den gemauerten Turm zu schonen.

Inventare in Buchform

Von der Reformation bis 1936 nutzten die Bernecker die alte Kirche für beide Konfessionen, dann lösten sich die Reformierten aus der Parität und errichteten ihre eigene Kirche nur wenige 100 Meter von der andern Kirche entfernt. In den massiven Turm setzten sie ein kräftiges Geläut, das jenes der alten Kirche an Klangschönheit und Schwere übertraf. Das konnte der damalige katholische Pfarrer Dr. D. Thürlimann nur schwer akzeptieren. Bei der Renovation der alten, inzwischen katholischen Kirche griff er in seine eigene «Schatulle» und stiftete ein neues Geläut, das jenes der Reformierten übertraf. So wurde Berneck zu einem Paradies für Glockenfreunde. An schönen Samstagabenden, wenn der Sonntag eingeläutet wird, oder an hohen Feiertagen, findet man vor Ort Glockentouristen, die nur wegen des Geläuts in das Weindorf kommen. Auf dem Internetportal von YouTube gibt es gegen ein Dutzend verschiedener ­Filme mit dem Geläut von Berneck. Auch Radio DRS präsentiert auf der Website unter «Glocken der Heimat» das Geläut von Berneck in einer Aufnahme von 1978. 

Die von Hans Jürg Gnehm erstellten Inventare sind teils in Buchbeiträgen veröffentlicht oder sie sind bei den Kirchgemeinden einsehbar. Ein schweizweites «Inventar», wie es der Bund von seiner Bevölkerung durch Volkszählungen erstellt, ist für die Glocken nicht geplant. Hans Jürg Gnehm ist weiterhin für kantonale Denkmalpflegen unterwegs, um weitere Geläute in der Schweiz zu inventarisieren. Mit seiner Tätigkeit möchte er, wie er sagt, «dazu beitragen, dass der kulturelle, musikalische, künstlerische und nicht zuletzt auch spirituelle Reichtum dieser allgegenwärtigen und doch weitgehend verborgenen Schätze neu entdeckt wird».

Text: Andreas Schwendender l Bild: HT  – Kirchenbote Februar 2011

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