«Surprise»
Ich lernte Francesca, eine Frau in den Fünfzigern, vor einigen Jahren kennen. Die Offenheit, Herzlichkeit und Empathie, mit der sie Kindern und Erwachsenen begegnete, schafften rasch eine freundschaftliche Verbundenheit zwischen uns. Auf meine Frage nach ihrer Familie antwortete sie zögernd: «Ja, ich hatte eine Tochter und habe jetzt einen Sohn.» Jahre später lernte ich den Sohn kennen, einen sympathischen jungen Mann mit Bart, unkompliziertem Auftreten und schelmischem Funkeln in den Augen. Nichts deutete auf den langen, herausfordernden Weg hin, den Francesca mit ihrem Kind hinter sich hat.
Alleinerziehend
Die ungeplante Schwangerschaft veränderte das Leben der damals gut dreissigjährigen, lebensfrohen Frau komplett. Für sie war klar, dass sie ihr Kind bekommen und mit viel Liebe umsorgen wollte, obwohl der Kindsvater sofort jeglichen Kontakt ablehnte. Nach der Geburt ihres Mädchens folgten für Francesca Jahre voller Herausforderungen. Existenzängste waren allgegenwärtig, die Furcht, vom Sozialamt abhängig zu werden, riesig. Trotz Vollzeitjob reichte das Geld kaum für Miete, Kinderkrippe und Lebenskosten. Es war schwierig, zudem noch dem ungewöhnlich wilden Mädchen gerecht zu werden. Am glücklichsten waren die beiden im Wald, bei Ausflügen, dem gemeinsamen Werken und in der mühsam zusammengesparten jährlichen Ferienwoche am Meer.
Diese Klarheit und das Wissen, wie es weitergehen würde, war wie ein Fest für uns.
Auf der Suche
Mit dreieinhalb Jahren weigerte sich die Kleine von einem Tag auf den anderen kategorisch, Mädchenkleider zu tragen. Francesca musste augenblicklich die Kindergarderobe austauschen. Beim Coiffeur verlangte das Kind einen Kurzhaarschnitt und wenn jemand nach ihrem Namen fragte, stellte sie sich oft mit der männlichen Form ihres Vornamens vor. «Damals machte ich mir nicht so viele Gedanken über dieses Verhalten. Ich erklärte es mir mit dem Fehlen einer männlichen Bezugsperson», sagt Francesca. Später belasteten schulische und verhaltensmässige Probleme des Kindes und die Überforderung der Mutter die Beziehung zunehmend. Mit Beginn der Pubertät litt das Mädchen, mit dem Aussehen eines Buben, zunehmend darunter, nirgends dazuzugehören, nicht zu wissen, wer es war. Abklärungen ergaben die Diagnose ADHS, die manches an seinem Verhalten erklärten. Zudem litt es an Depressionen und weiteren gesundheitlichen Störungen. Trotzdem begann die Jugendliche nach der Schule eine Ausbildung und mit dem Wohnen in einer betreuten WG sollte eine Entspannung in der Beziehung zu ihrer Mutter erreicht werden. Eine bedrohliche Erkrankung führte zum Abbruch der Lehre und der Rückkehr nach Hause.
«Ich bin ein Mann»
Aus eigener Initiative suchte und fand die 17-jährige anschliessend Hilfe in einer Klinik. Nach längerem Aufenthalt wusste Francescas Tochter: «Ich bin ein Mann.» «Diese Klarheit und das Wissen, wie es weitergehen würde, war wie ein Fest für uns», sagt die Mutter. Während die medizinischen Notwendigkeiten Schritt für Schritt gemacht wurden, gestalteten sich die administrativen Sachen schwieriger. Es war ein mühsamer, oft demütigender Prozess, bis von amtlicher Seite her aus den weiblichen Personalien endlich männliche wurden.
Inzwischen hat Francescas Sohn erfolgreich eine Ausbildung abgeschlossen, geniesst ein geregeltes Leben, macht Weiterbildungspläne und schaut zuversichtlich in die Zukunft. Und aus der oft bis an ihre Grenzen belasteten alleinerziehenden Mutter wurde eine Frau mit viel Verständnis und Wärme für Menschen in ungewohnten Lebenssituationen. Eine Frau, die mit ihrem Engagement für andere und ihrem positiven, strahlenden Wesen viel Gutes bewirkt.
*Name geändert
«Surprise»