«Tränen rannen mir übers Gesicht»

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26.08.2020
Sie pilgert mit Leidenschaft, manchmal im wahrsten Sinne des Wortes: Pilgern schafft Leiden. Doch trotz Schmerzen, Regen und verlorener Gruppe: Die Krinauerin Judith Brander ist und bleibt eine unverwüstliche Pilgerin.

Der Rucksack, den sie voller Erinnerungen an 20 Jahre Pilgern trägt, ist schwer und prall. Und es hat auch schmerzliche Last darin. «Aufgehört habe ich trotzdem nicht», sagt sie und wischt sich mit ihrem unverkennbaren Lachen eine Träne aus dem Augenwinkel. 

«Ist das nun der Preis all der Mühsal?»

Etappenweise war die Wandergruppe aus dem Toggenburg nach Santiago de Compostela unterwegs, in den letzten Jahren «rückwärts» durch Deutschland. «Nur schon, dass ich als langsame Wandersfrau bekannt bin, ist für mich nicht einfach auszuhalten; die Gruppe wartet oft. Ich nehme streckenweise den Zug, oder ich kann mit dem Auto mitfahren, das unser Reisegepäck mit sich führt. Ich habe schon Autostopp gemacht und bin am falschen Ort gelandet, ich habe die Gruppe verloren, es ist unglaublich», sagt sie mit einem tiefen Seufzer. 

Direkt dem Regenbogen entgegen
Santiago de Compostela, endlich! Das grosse Ziel aller Pilgernden seit Jahrhunderten, löst bei Judith Brander noch heute widersprüchliche und abwehrende Gefühle aus. «Ich stand in einem dunklen, überladenen Kirchenraum. Es war ein riesiger Rummel. Ich war zutiefst erschrocken, verwirrt und bedrückt. Ist das nun der Preis all der Mühsal?» Eine grenzenlose Enttäuschung drückt ihr beinahe den Atem weg, sie verlässt fluchtartig das Kirchenschiff. Wie gnädig in diesem Moment, gibt es auch das andere Erlebnis. Es schenkt nach dem ersten Schrecken und dem Luftschnappen neuen Atem und Versöhnung. Judith Brander erzählt von einem starken Gewitter, in das die Gruppe geraten war, vom Unterstellen, schon durchnässt und vom baldigen Weitergehen, direkt dem Regenbogen entgegen.

Orientierung verloren
Einmal habe sie die Gruppe verloren. Es war neblig und nass und ging steil bergauf. «Ich rutschte ständig zurück, machte wieder einen Schritt vor, hatte längst die Orientierung verloren. Die Tränen rannen mir über das Gesicht, ich fühlte mich so allein, hilflos und ausgeliefert», erinnert sie sich. Und dann – aus dem Nebel – war das Bimmeln eines Glöckleins zu hören. Mit jedem zarten Glockenschlag wuchsen Mut und Hoffnung und ein nächster rutschender Schritt. Jetzt war sie sicher: Oben am Berg muss die Kapelle stehen, wo gerastet wird für eine Andacht mit der Gruppe. Dann wird sie sicher sein. «Mit letzter Kraft kam ich an», sagt sie leise und hält in ihrer Erzählung inne.

«Die Füsse kleben am Boden fest, es ist, als wäre der Asphalt dicker Kaugummi.»

Warum hat sie nicht gleich aufgegeben, ist man versucht zu fragen. Aber sie kommt einem zuvor und sagt. «Dass man einfach kaum mehr kann, keinen Schritt mehr, dass man die Tränen zuvorderst hat oder sie einfach rinnen lässt, dass man stöhnt und schimpft, sich fragt, warum man gerade ums Himmels Willen jetzt da ist und nicht einfach zufrieden zu Hause? Was das für einen Sinn hat, was man wem beweisen will und wozu, wozu, wozu? Und ich habe mich so gefreut. Diese Gefühlsschwankungen, die einen so plagen, kommen immer wieder.» Und sie hat sie längst erfahren.

Es regnete wie aus KĂĽbeln
Die allerschlimmste Erinnerung ans Pilgern aber ist der erste Reisetag der ersten Reise. «Es regnete, es schüttete, es ‹läärte eifach nume abe›», erzählt sie und erschaudert noch heute. Die Nässe, die Kälte und die Müdigkeit sassen in den Knochen, hockten schwer auf den Schultern. Die Füsse klebten am Boden fest, es war, als wäre der Asphalt aus dicker Kaugummimasse. Endlich war die Ortstafel Lachen in Sicht. Aber noch dauerte es sicher eine Dreiviertelstunde bis zum Essen und Schlafen in der Zivilschutzanlage. «Dies bleibt die allerschlimmste Stunde in meiner ganzen Pilgerzeit. Und das Duschwasser war kalt.»

Beim Schildern werden auch ihre Bewegungen schwer und verhalten; denn eigentlich ist sie während des Erzählens dabei, rasch einen Hefeteig zu kneten. Sagt es und beschreibt unbeirrt doch schon das nächste Ziel der Pilgerreise vom kommenden Herbst. Diesmal wird es durch Österreich gehen. 

 

Text | Foto: Katharina Burri, Journalistin, Krinau  – Kirchenbote SG, September 2020

 

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