Demenz: schambehaftet und stigmatisiert

Traumwelt Demenz

von Dr. med. Karin Bernet, Demenz-Coach
min
01.10.2024
Demenz verändert das Leben von Betroffenen und Angehörigen grundlegend. Während kognitive Fähigkeiten schwinden, treten Emotionen wie Angst und Frustration in den Vordergrund. Das Thema Demenz ist noch immer schambehaftet und stigmatisiert. Demenz-Coach Karin Bernet beleuchtet, wie ein einfühlsamer Umgang die Beziehung erhalten kann.

«Die Demenzerkrankung erschüttert das Sein des Menschen. Die eigene Identität löst sich auf. Es ist ein Fremd-werden im eigenen Körper», sagt der demenzerkrankte Alexander Cube. Anstelle des Denkens und der kognitiven Fähigkeiten, die mehr und mehr versagen, treten Verlustängste, Wahrnehmungen und Gefühle wie beispielsweise Ohnmacht, Wut, Frustration, Trauer in den Vordergrund.

 

Mitgefühl und Unterstützung für Angehörige

Nicht nur für die an Demenz Erkrankten sondern auch für Angehörige stellt die Erkrankung eine extreme Herausforderung dar. Einerseits erleben sie einen uneindeutigen Verlust: der Erkrankte ist körperlich anwesend, aber psychisch in zunehmendem Mass abwesend. Die Person, die sie geheiratet, geliebt haben, verschwindet zunehmend. An ihre Stelle tritt ein fremder Mensch, die einst intime Beziehung wird zunehmend zu einer Aufgabe der Betreuung und Pflege. Das vertraute Leben wird auf den Kopf gestellt! Andererseits können die neuen Verhaltensmuster des Erkrankten tiefliegende Gefühle auslösen. Gefühle von Angst, Einsamkeit, Ohnmacht, Schuld, Scham, Trauer und Wut. Betroffene und Angehörige brauchen unser Verständnis, Mitgefühl und unsere Unterstützung. Als Angehörige sind Sie aufgefordert, gut für sich zu sorgen. Denn die Betreuung oder Pflege des Erkrankten hängt schliesslich an Ihnen. Sie dürfen, ja, sollen für Ihre eigenen Grenzen einstehen. Sie dürfen «Nein» sagen. Bauen Sie Ihre Ressourcen aus, damit Sie genügend Kraft haben, diese schwierige Aufgabe zu bewältigen. Alles, was Ihnen Freude bereitet, darf im Alltag seinen Platz haben. Bedenken Sie eines: Die Demenzerkrankung wird nicht besser, sie wird nur schlimmer.

 

Leben in der inneren Erlebniswelt

Die Prozessorientierte Psychologie[1] betrachtet die Veränderung weg von kognitiven Fähigkeiten hin zur Gefühlswelt als «Heilungsweg». Sie können sich das folgendermassen vorstellen: In unserer westlichen Gesellschaft leben wir hauptsächlich in einer Realität, die auf Fakten, Zahlen und Normen basiert, welche messbar und benennbar sind (die sogenannte Konsens-Realität). Qualitäten, die hingegen der Gefühlswelt zugeschrieben werden, wie schwierige oder schmerzhafte Wahrnehmungen und Träume, leben wir nicht aus, sondern wir verdrängen und unterdrücken sie. Wenn wir «heil» werden wollen, gilt es all unsere unterdrückten Wahrnehmung zuzulassen, da auch sie zu uns gehören. Die an Demenz Erkrankten sind genau diesem Prozess ausgeliefert: Sie verlieren die Verbindung zu ihren kognitiven Fähigkeiten und leben immer mehr in ihren Gefühlen und inneren Erlebniswelten (auch Traum-Realität oder Traumwelt genannt) (Abb. 1). Daher spüren Erkrankte auch sehr genau, was los ist, ob jemand lügt, wütend oder traurig ist. Sie können das Gefühl aber nicht mehr richtig zuordnen und reagieren entsprechend.

 

[1]  Die Prozessorientierte Psychologie (auch Prozessarbeit genannt) wurzelt in der Analytischen Psychologie von C.G. Jung und wurde von Dr. A. Mindell weiterentwickelt (www.institut-prozessarbeit.ch).

Abb. 1:

Das 3-Ebenen-Wahrnehmungsmodell der Prozessarbeit zeigt, in welcher Realität sich der Demenzerkrankte befindet: Konsens-, Traum- oder Essenz-Realität (für den Umgang mit Demenzerkrankten von G. Walker erweitert, 2012).

Abb. 1: Das 3-Ebenen-Wahrnehmungsmodell der Prozessarbeit zeigt, in welcher Realität sich der Demenzerkrankte befindet: Konsens-, Traum- oder Essenz-Realität (für den Umgang mit Demenzerkrankten von G. Walker erweitert, 2012).

 

 

Prozessorientierte Kommunikation hilft

Die Erkrankten weilen immer mehr in ihrer eigenen Erlebniswelt und finden sich immer weniger in unserer gewohnten Welt zurecht. Wie gehen wir mit ihnen in Beziehung? Prozessarbeit bietet eine Kommunikationsmethode, die hilft, dem Selbstverständnis der Demenzerkrankten näher zu kommen, sie in ihrer Welt zu unterstützen und die betreuenden, pflegerischen Handlungen zu erleichtern. Pflegefachfrau G. Walker hat das Wichtigste für den Umgang mit Demenzerkrankten zusammengetragen[1]: «Die Grundhaltung, mit welcher ich den Erkrankten gegenübertrete, ist essentiell. Nehme ich ihre Äusserungen als für sie gültig wahr, auch wenn sie für mich völlig unverständlich oder gar befremdend sind? Oder sehe ich in ihnen erfahrene, erwachsene Menschen, die in einer anderen Realität weilen?».

 

„Weisst du, ich habe gesehen, wie der Delphin die Samen aufsprengt!“

„Oh, wie macht er das?“

 

Natürlich kann ein Delphin keine Samen aufsprengen. Wenn ich wertschätzend bin, tauche ich in die Geschichten meines Gegenübers mit hinein, erlaube mir, nicht zu verstehen, sondern einfach mitzugehen. Unwichtig, ob sich mir der Inhalt erschliesst. Viel wichtiger ist, dass ich nicht negiere, nicht korrigiere, sondern anerkenne und bestätige. Eigene Vorstellungen, wie etwas sein sollte, und eigene Bewertungen werden fallengelassen. Wir orientieren uns nach unserer Wahrnehmung: Was geschieht gerade jetzt? Was tut der Mensch? Welche Stimmung hat er? Gibt es eine Geschichte, zusammenhangslose Sätze? Wiederholt sich eine Bewegung, Gesten, Blicke?

 

Herr M erzählt bruchstückhaft seine Geschichte und nimmt zum Aufzählen den Daumen: „Erstens…“ Ich spiegle seine Geste, bin ganz ihm zugewendet und sage ebenfalls: „Erstens…“. Daraufhin sagt er: „zweitens…“ und erzählt weiter, „drittens…“ und hebt dabei nacheinander seinen Zeige- und Mittelfinger. Auch ich hebe den Zeige- und Mittelfinger und sage „zweitens… drittens“. Auf der Gefühlsebene sind wir spürbar verbunden, eine harmonische Atmosphäre schwingt mit.

 

Da das subjektive Erleben des Demenzerkrankten im Mittelpunkt steht, ist es unabdingbar, genau zu beobachten, welche verbale oder nonverbale Rückmeldung zurückkommt. Im oberen Beispiel ist das Feedback positiv, da sich Herr M motiviert fühlt, weiter zu erzählen, vielleicht sogar ein leichtes Lächeln auf den Lippen hat und die Atmosphäre harmonisch ist. Solange das Feedback positiv ist, kann ich alles probieren, fragen oder vorschlagen.

 

Du hast eine Pflanze und gibst ihr Wasser. Die Pflanze wächst. Positives Feedback.

Du hast eine Pflanze und gibst ihr KEIN Wasser. Die Pflanze kriegt braune Blätter. Negatives Feedback.

 

Die grundsätzliche Methode ist die Amplifikation (Verstärken) im zugehörigen Sinneskanal. Damit sich die Erkrankten in ihrer Erlebniswelt wertgeschätzt fühlen, dürfen wir Gesten und Bewegungen spiegeln, Worte präzis wiederholen, gleiche Laute äussern, Ich-Aussagen bekräftigen, in eine erzählte Geschichte eintauchen, begonnene Sätze vervollständigen, mitbeobachten, mitsingen, Autonomie-Impulse unterstützen, bei allgemeinen Aussagen nachfragen. Solange das daraufhin folgende Feedback positiv ist!

 

Beim Aufstehen sagt Frau M: „Machen wir bumele, bumele.“ Ich verstehe ihre Aussage nicht, gehe aber davon aus, dass genau diese Worte für sie von Bedeutung sind. Ich bestätige sie, indem ich ihre Aussage wortgetreu wiederhole: „Ja, machen wir bumele, bumele“ und füge anschliessend ratend hinzu: „Auf die Toilette gehen?“ Ihr Feedback ist positiv und so geht sie in meiner Begleitung zur Toilette.

 

[1] G. Walker, 2012. Prozessorientierte Kommunikation (PoK) im Umgang mit demenziell veränderten Menschen. Projektarbeit, IPA Zürich.

Kurs für Prozessorientierte Kommunikation

Die Volkshochschule Basel bietet an zwei Tagen einen Kurs «Prozessorientierte Kommunikation im Umgang mit Demenz» an.

 

Sie erhalten einen Einblick in die theoretischen Grundlagen der Prozessorientierten Kommunikation. Anhand von praktischen Übungen lernen Sie die Methoden der Nicht-Interpretation, Feedback- und Kanal-Orientierung kennen. Sie erforschen Ihre eigene Erlebniswelt und schärfen Ihre Wahrnehmung. Ein Austausch in der Gruppe ermöglicht neue Erkenntnisse und Erfahrungen. Der Kurs richtet sich an alle Interessierten, Angehörigen und Pflegenden von demenziell veränderten Menschen und hat zum Ziel, Ihre verbale und nonverbale Kommunikationskompetenz zu vertiefen und Ihren Umgang mit Menschen mit Demenz zu vereinfachen.

Weitere Informationen dazu finden Sie unter diesem Link:

Prozessorientierte Kommunikation – für den Umgang mit demenziell veränderten Menschen | VHSBB

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