Postreligiöse Spiritualität

Unbändige Hoffnung

von Annette Spitzenberg
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01.02.2024
Einen lange zurückliegender Bildungsurlaub in Peru inspiriert Pfarrerin Annette Spitzenberg noch heute. Sie stiess damals auf einen faszinierenden Gedanken: «Können sich etablierte Weltreligionen in neue Formen von Spiritualität transformieren?»

Ich trug mich mit der Frage, ob es möglich sein könnte, dass die etablierten Weltreligionen sich transformieren in neue und andere Formen von Spiritualität. Ich dachte damals, dass ich vielleicht zusammen mit einigen Esoterikerinnen und Esoterikern die einzige sei, welche sich solche fast schon ketzerischen Gedanken erlaube. Dass ich vielleicht als christliche Mystikerin dazu neigte, die eigenen Dogmen zu transzendieren, wie das in der Mystik immer schon geschah. Ausserdem glaubte ich, es sei vielleicht ein westeuropäisch gefärbter Blick.

 

Postreligiöse Weltanschauung

Ich war an einer interdisziplinären Schulung lateinamerikanischer Theolog:innen, als ein Papier der EATWOT (ökumenische Vereinigung von Drittwelt Theolog:innen) von 2012 präsentiert wurde. Diese trug den Titel «Hacia un paradigma pos-religional» (Auf dem Weg zu einer postreligiösen Weltanschauung). Die Autoren beschreiben die Weltreligionen als historisch gewachsene Phänomene, welche mit Beginn des Hinduismus am Ende des Neolithikums ihren Anfang nahmen. Wohingegen der Homo Sapiens weitaus älter ist und wie wir aus den gefundenen Objekten ableiten können, schon immer religiös war. Mit anderen Worten, eine Weltreligion ist nicht deckungsgleich damit, religiös zu sein oder spirituelle Überzeugungen zu haben. So wie sie historisch gewachsen sind, können sie auch wieder verschwinden oder sich wandeln. Sie sind nicht ewig.

 

Der Homo Sapiens war schon immer religiös.

Spiritualität jenseits von traditionellen Religionen

Wohin könnte die Reise gehen? Darin bleibt das Dokument vage. Es benennt zwar, dass es nach wie vor sogenannte animistische Religionen gibt, welche eine andere Entwicklung durchlaufen haben als die grossen Weltreligionen. Sie sind geprägt von einem Weltbild, in welchem die Natur beseelt ist, mit unterschiedlichsten lokalen Ausprägungen. Und der Mensch in ihr ist Teil dieser beseelten Welt, Teil der Natur. Es ist eine gegenseitige Durchdringung der Wirklichkeiten.

Doch wir können nicht einfach dahin «zurück», zumal animistische Formen von Religion zwar nicht ausbeutend mit der Natur umgehen, doch es gibt auch unter ihnen grausame, kriegerische Ausprägungen und viele an einen bestimmten Ort gebundene Formen.

Wohin also? Die moderne Medizin mit ihren Intensivstationen macht es möglich, dass mehr Menschen als früher Nahtoderfahrungen haben. Viele von ihnen berichten übereinstimmend über eine Lichterfahrung. Dieses Licht ist gleichzeitig eine Erfahrung von bedingungsloser Liebe. Wer von solchen Erfahrungen berichtet, hat oft kaum die passenden Worte dazu. Manche Menschen, die zurückkommen und eine bewusste Erinnerung daran haben, entwickeln daraufhin eine tiefe Spiritualität, welche sich jenseits von traditionellen Religionen verortet, eine Art transreligiöse Spiritualität. Immer ist sie bestimmt von dieser Erfahrung der bedingungslosen Liebe.

 

Grösste Kraft im Universum ist die Liebe

Es scheint nicht gerade, als würde sich die Menschheit auf eine solche Transformation hin zu bewegen, ganz im Gegenteil. Hoffnung geben mir junge Menschen. Jedes Jahr bitte ich die zukünftigen Pflegefachleute, ein Symbol für ihre eigene innerste Überzeugung mitzubringen, sei sie religiös, spirituell oder einem inneren Wert entsprechend. In einem Jahr brachten besonders viele in irgendeiner Form ein Herz mit. Und eine von ihnen sagte: «Ich glaube, Liebe ist die grösste Kraft im Universum.» Dem habe ich als reformierte Christin und Pfarrerin nichts hinzuzufügen.

 

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