«Unser Horizont ist wahnsinnig eng»

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20.02.2017
Sich persönlich weiterbilden, indem man in ein ganz anderes Arbeitsumfeld hineinschaut: Das wird bei der reformierten Zürcher Landeskirche jetzt institutionalisiert. Kirchenratspräsident Michel Müller hat es bereits ausprobiert und arbeitete eine Woche lang in einem Wirtschaftsbetrieb. Er ist überzeugt: Ein solcher Perspektivenwechsel täte allen Kirchenverantwortlichen gut.

Wer wünscht sich nicht manchmal, seinen Job an den Nagel zu hängen und etwas ganz anderes zu tun? Michel Müller, Zürcher Kirchenratspräsident, hat es gemacht: Zumindest für eine Woche hat er seinen gewohnten Arbeitsplatz verlassen und bei der Post Wirtschaftsluft geschnuppert. «Ich habe wenig unternehmerische Erfahrung», begründet er seine Wahl im Gespräch mit ref.ch. Einblick bekam er in den Bereich «Human Ressources» der Abteilung Briefpost, am Hauptsitz in Bern, im Verteilzentrum in Zürich-Mülligen und in Lausanne. Stark beeindruckt habe ihn, wie sich die Angestellten dem Unternehmen verbunden fühlten: Vom «gelben Blut» sei jeweils die Rede gewesen. Müller würde sich ein solch ausgeprägtes Zusammengehörigkeitsgefühl auch über die Grenzen der eigenen Kirchgemeinde hinweg wünschen. «Bei uns fühlt man sich eigentlich nur der eigenen Filiale verbunden. Dabei geht oft der Blick fürs grosse Ganze verloren.»

Kirche bietet vielfältige Einsatzplätze
Was Müller gemacht hat, ist an sich nichts Neues: Im Rahmen des Programms «Seitenwechsel» schulen Leute aus Wirtschaft und Verwaltung bereits seit 1994 ihre Führungs- und Sozialkompetenz, indem sie in einer sozialen Institution mitarbeiten. Das Eintauchen in einen unbekannten Kontext, in dem man sich auf kaum etwas verlassen kann, was im normalen Arbeitsleben funktioniert, soll den Umgang mit Stress, knappen Ressourcen und komplett unterschiedlichen Menschen fördern. Und im besten Fall die soziale Verantwortung wieder bewusstmachen, wie es im Beschrieb des Programms heisst, welches von der Schweizerischen Gemeinnützigen Gesellschaft organisiert wird.

Neu ist nun, dass auch die Zürcher Landeskirche als erste kirchliche Teilnehmerin bei «Seitenwechsel» mit dabei ist. Jeannette Behringer, verantwortlich für den Bereich Gesellschaft und Ethik, hat die Idee bei der Landeskirche eingebracht. Sie begleitete und evaluierte das Projekt in der dreijährigen Testphase zusammen mit Fränzi Dürst, welche die Thematik Partizipation und Freiwilligenarbeit bei der Landeskirche betreut. Laut Behringer ist die Kirche wegen ihren unterschiedlichen Arbeitsfeldern die einzige Institution, die Leute entsenden und auch Einsatzplätze bieten kann: Sowohl im sozialen Bereich als auch in der Verwaltung sind Plätze vorhanden.

Gegen diffuse Urteile
Inzwischen konnten Kirchenratspräsident Müller und vier weitere Personen mit Führungsverantwortung den Jobtausch durchführen. Umgekehrt haben drei Leute aus dem Bankensektor Einblick in die Kirche erhalten, waren im Einsatz bei der Stadtmission oder in der Spezialseelsorge. Behringer sieht darin einen grossen Gewinn: «Gerade Personen, die der Kirche distanziert gegenüberstehen, haben diffuse Urteile über sie.» Häufig, weil die Bandbreite kirchlichen Engagements nicht bekannt sei. «Oft höre ich ‹Ich hätte nie gedacht, dass die Kirche auch solche Angebote hat.›»

Die Erfahrungen mit «Seitenwechsel» sind so gut, dass das Programm nun zu einem regulären Angebot der Kantonalkirche wird. «Es ist für alle Seiten ein voller Erfolg», so Behringer.

Reagieren auf veränderte Bedingungen
Dieser Ansicht ist auch Kirchenratspräsident Michel Müller: Die Horizonterweiterung habe ihn überzeugt und ihn gar dazu bewogen, im Sommer eine Weiterbildung in «Führung komplexer Organisationen» zu beginnen. Müller konnte aus dem Seitenwechsel einige Schlüsse für seine eigene Arbeit ziehen. So müssten etwa Post und Kirche ähnliche Herausforderungen meistern: Die Briefpost habe sich innert weniger Jahre um einen Viertel reduziert, die Kirche müsse einen massiven Einbruch der Mitgliederzahlen hinnehmen. Müller imponiert, wie man mit den veränderten Bedingungen bei der Post umgeht, die Probleme fürs Personal wahrnimmt und versucht Anpassungen vorzunehmen: «In der Kirche wird das noch stark ausgeblendet», sagt er.

Noch deutlicher wird Müller bei der Frage, warum gerade Kirchenverantwortliche einen Seitenwechsel machen sollten: «Der Horizont bei uns in der Kirche ist wahnsinnig eng – und es wird sogar noch schlimmer.» Der Wille, sich auf die veränderte Gesellschaft auszurichten und für die Menschen in ihrer Vielfalt da zu sein, werde immer kleiner. In der Zürcher Kirche rede man seit fünf Jahren von Milieus und Lebenswelten, kümmere sich aber weiterhin nur um die eigene Gemeinde und die eigenen Gelder. «Da ist alles recht, was irgendwie hilft, den Horizont zu erweitern», sagt Michel Müller.

Raphael Kummer / ref.ch / 20. Februar 2017

Dieser Artikel stammt aus der Online-Kooperation von «reformiert.», «Interkantonaler Kirchenbote» und «ref.ch».

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