Verbunden mit der alten Heimat

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21.12.2021
Was Menschen mit ihrer Familiengeschichte verbindet. Spurensuche per Velo in Venetien.

Emilio steht vor seinem Steinhaus in Canai, hoch über dem Fluss Piave, der durchs Val Belluna mäandert. Der Blick des alten Mannes wandert kritisch über unsere Velos. Woher wir denn kämen? Aus der Schweiz. «Ah», murmelt er. Emilios Zutrauen wächst. Er erzählt, wie er das Tal vor Jahrzehnten verlassen, im Kanton Aargau und später in St. Gallen auf dem Bau gearbeitet habe, dann aber wegen einer Allergie wieder zurückgekehrt sei und in der Fadenfabrik sein Dasein verdiente. Ja, es seien wegen der Armut und fehlender Arbeit sehr viele von ihnen aus der Gegend weggegangen. Nein, einen Pio aus Pez kenne er nicht. 

Konzept der Prägung

Unsere Velorouten richten sich immer mehr nach der Herkunft unserer Bekannten und Verwandten. Anderntags röcheln wir hinauf nach Sorrivo. Hier wuchs Tranquilla auf, wanderte aus und fand ihr Glück in Zürich. Wir rufen ihre Tochter an, erklären, dass wir nun am Fusse der Dolomiten unterhalb des Croce d’Aune seien, dort, wo sie ihre Ferien verbrachte, Fussball spielte, den Rest der Verwandtschaft um sich hatte. Unsere Bekannte ist gerührt und wir fragen uns, warum uns Vergangenes anderer Menschen interessiert. «Man geht davon aus, dass das Umfeld, in dem ein Mensch aufwächst, Einfluss hat auf die eigene Persönlichkeit. Dies will man vielleicht besser verstehen. Seit Freud sprechen wir vom Konzept der Prägung. Auch der systemische Ansatz betont, wie wesentlich die Kontextfaktoren, das heisst die Umgebung, die Stimmung, das Verhalten der uns umgebenden Personen unser Erleben beeinflussen», erklärt die Psychologin Marlen Bolliger, St. Gallen. 

 

«Veränderungen des Gehirns bewirken, dass Vergangenes viel mehr interessiert.»

 

Wir posten auf WhatsApp den Pass Croce d’Aune. Es dauert nicht lange und Zio Fernando meldet sich. Er kenne den steilen Anstieg hinauf in die Berge, sei ganz in der Nähe aufgewachsen, in Norcen. Seine Schwester betreibe die Pizzeria, seine Nichte wohne auch noch dort. Als wir im Geburtsort von Fernando ankommen, ist das Lokal leider geschlossen. Wir hätten eine Stärkung gebraucht. Doch der Friedhof in Norcen, unterhalb der Kirche, lässt den Hunger vergessen. Hier ruht also die Familie von Fernando. Ein Name sticht aus den De Carlis, Tonets und De Bortolis heraus: Paul Leutenegger. War er mit einer Einheimischen verheiratet? Was verschlug diesen Mann hierhin? War er hier zu Hause? Es fällt uns ein, dass er mit einer Schwester oder Cousine von Fernando verheiratet war. «Um die 60 geht ein Gehirnumbau vor sich, der dem der Pubertät ähnlich ist. Diese strukturellen Veränderungen bewirken, dass sich ältere Menschen viel mehr für vergangene Ereignisse interessieren. Man erinnert sich plötzlich an vergessen Geglaubtes. Personen tauchen in der Erinnerung auf, an die man jahrelang nicht gedacht hat», erklärt die Psychologin. 

Näher gekommen

Wie Emilio, so kannten wir Pio nicht. Doch wir wissen, dass der Vater eines Kollegen einst in Winterthur arbeitete und nach dem Tod wieder zu Hause in Pez zur letzten Ruhe gebettet werden wollte. Wir besuchen das Dorf und scheinen unseren Kollegen besser begreifen zu können. «Der Mensch will sich und sein Erleben, seine Verhaltensweisen, sein Fühlen verstehen. Dies gelingt manchmal besser, wenn auch die Vergangenheit einbezogen wird», sagt Marlen Bolliger. Wir wiederum glauben, mit unserem Auf und Ab durch das Val Belluna unseren Verwandten und Bekannten näher gekommen zu sein. Sie haben alles hinter sich gelassen, sind in eine fremde Welt aufgebrochen, aber nach wie vor mit der alten Heimat verbunden, über Generationen hinweg. Und manche kehrten an ihren Ursprungsort zurück, wie Emilio.

Text | Foto: Katharina Meier – Kirchenbote SG, Januar 2022

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