Flucht nach Armenien

Vertreibung aus Bergkarabach: 100'000 Menschen auf der Flucht

von Vera Rüttimann
min
19.10.2023
Die Gewalt durch die aserbaidschanische Armee in Bergkarabach hat über 100‘000 armenischstämmige Bewohner:innen zur Flucht nach Armenien gezwungen. Marc Zoss, zuständig für Asien und Südkaukasus beim Heks, über die aktuelle Lage und wie das evangelisch-reformierte Hilfswerk jetzt konkret hilft.  

Marc Zoss, hat Sie diese Militäraktion überrascht?

Wer die ganze Entwicklung ein wenig verfolgt hat, für den ist das Eingetretene eine konsequente Weiterführung der Strategie des aserbaidschanischen Militärs. Aserbaidschan ist hochgerüstet und militärisch klar überlegen. Bereits 2020 gab es einen Krieg, seit dann immer wieder Scharmützel und nun die Übernahme von Bergkarabach.

Auch wenn Aserbaidschan sagen würde, sie seien für eine teilautonome Lösung, ist das Vertrauen dieser Leute nicht mehr da.

Wie schätzen Sie die aktuelle Lage des armenischstämmigen Teils der Bevölkerung ein?

Über 100‘000 Menschen sind aus Furcht vor ethnisch motivierten Übergriffen von aserbaidschanischer Seite geflohen. Wir erfahren gleichzeitig Geschichten von grosser Solidarität der Armenier mit den Geflüchteten. Unsere Mitarbeiterin in Jerewan sagte mir, sie habe in ihrer Zweieinhalb-Zimmer-Wohnung, in der sie schon zu dritt leben, noch acht Leute zusätzlich aufgenommen. Sie berichtete von Suppenausgaben für die Geflüchteten und anderen Solidaritätsaktionen. Klar ist: Diese Leute gehen nicht mehr zurück nach Bergkarabach. Auch wenn Aserbaidschan sagen würde, sie seien für eine teilautonome Lösung, ist das Vertrauen dieser Leute nicht mehr da. Diese Gegend hat dafür zu viele ethnische Vertreibungen gesehen.

 

Marc Zoss, braune kurze Haare, Brille, schwarzes Hemd, lehnt an einer  Holzwand.

Marc Zoss ist beim Heks zuständig für Asien und den Südkaukasus. | Foto: Heks

 

Wie kann das Heks diesen Menschen jetzt konkret helfen?

Das Heks hat 1988 beim schweren Erdbeben in Armenien mit humanitärer Hilfe begonnen. Seitdem sind wir in diesem Land aktiv mit Entwicklungszusammenarbeit. Jetzt haben wir beschlossen, mit den lokalen Partnerorganisationen «Armenia Round Table» und «Syunik Development NGO», mit denen wir schon länger zusammenarbeiten, eine humanitäre Intervention umzusetzen.

Wir investieren zuerst einmal eine Nothilfe von vorerst 300‘000 Franken für insgesamt 1650 vulnerable Personen. 1300 Familien erhalten eine Bargeldunterstützung von je rund 120 Franken. In Armenien funktionieren die Märkte. Die Menschen können kaufen, was sie gerade am nötigsten brauchen und entscheiden selber darüber, was das ist. Untersuchungen zeigen, dass dies sehr effizient wirkt und die oft vermutete missbräuchliche Mittelverwendung minimal ist.

Zudem finanziert Heks für zwei Monate in Jeghegnadsor für 350 Geflüchtete eine Unterkunft. In dieser Unterkunft wird gekocht und es gibt psychosozialen Support für Jugendliche und Kinder. Die Kinder werden auch unterstützt so schnell wie möglich wieder die Schule zu besuchen.

Wie wird es weiter gehen mit der Hilfe der HEKS?

Die Situation wird wohl noch länger sowohl für die Geflüchteten als auch für die armenische Aufnahmegesellschaft sehr schwierig bleiben. Im Rahmen der Entwicklungszusammenarbeit wird das Heks die Vertriebenen stärker in ihre Aktivitäten miteinbeziehen. Es wird weiterhin Bemühungen und finanzielle Mittel benötigen, um die Geflüchteten in den Arbeitsmarkt zu integrieren.

Was fasziniert Sie an diesem Land?

In meiner bislang zehnjährigen Tätigkeit für das Heks war ich schon mehrfach in Armenien. Mich fasziniert, dass die Kultur Armeniens uns einerseits kulturell relativ nahe ist und andererseits doch ausgesprochen exotisch ist. Zudem ist die Sowjetgeschichte in Armenien immer noch auffallend präsent.

Der ganze kulturelle Kontext ist extrem spannend, aber aufgrund des stattgefundenen Genozids auch tragisch. Das wirkt bis heute nach. Armenien ist zudem orthodoxes Kernland. Es gibt hier wunderschöne und sehr alte Kirchen.

Der Genozid an den Armeniern geschah ja auch unter den Augen der Weltöffentlichkeit.

Erwarten Sie von der politischen Schweiz, dass sie sich stärker zur Vertreibung der Armenier äussert?

Aufgrund des neu entfachten Nahost-Konfliktes geht es derzeit auch um Aufmerksamkeitsökonomie. Ich denke: Die Armenier haben hier nicht besonders gute Karten. Der Genozid an ihnen geschah ja auch unter den Augen der Weltöffentlichkeit. Diesmal ist es wieder ähnlich. Hinzu kommt, dass Aserbaidschan für die Schweiz ein wichtiger Gas- und Erdöl-Lieferant ist. Umso mehr seit dem Krieg in der Ukraine, wo die Schweiz nach Alternativen zum russischen Gas sucht. Daher verhält man sich in der Schweiz politisch relativ still zur Situation der armenischstämmigen Bevölkerung von Bergkarabach. Aber die jetzige Intervention und die Vertreibung dort sind klar zu verurteilen, wie jede ethnische Vertreibung, von denen es in der Gegend viele gegeben hat und die zu verurteilen sind.

 

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